Adventskalender MiniKrimi am 11. Dezember


Stürmische Erbschaft

Wer kennt ihn nicht, den Onkel aus Amerika? Den es dann doch nicht gibt, oder wenn, dann hat er nix zu vererben?

Es geht auch umgekehrt. Über eine der vielen Ahnenforschungsseiten im Internet hatte Janet Becker aus Albany, New York, ihre Großtante väterlicherseits gefunden. Sie hieß Elfriede Jost, geb. Becker, war gesunde 91 Jahre alt und wohnte in Lübeck.

Janet war schon immer ein Papakind, und als sie nach der Scheidung ihrer Eltern zu ihrem Dad zog, wurde das Verhältnis der beiden noch intensiver. An ungezählten Winterabenden, während draußen der dichte Schnee am Fenster vorbeirieselte und drinnen ein munteres Kaminfeuer prasselte, erzählte Daddy ihr gerne die Geschichte, wie sein Vater Ernst 1939 als junger Dichter und glühender Antifaschist nach New York gekommen war.  Um zu überleben, war er Redakteur einer kleinen Lokalzeitung geworden, später Herausgeber und Inhaber. Er hatte geheiratet und einen Sohn bekommen, Janets Dad. In Deutschland hatte er eine um etliche Jahre jüngere Schwester hinterlassen, und sein ganzes amerikanisches Leben über hatte er davon geträumt, sie zu sich zu holen. Doch, warum auch immer – es war ein Traum geblieben.

Kurz vor seinem Tod hatte er seinen einzigen Sohn gebeten, nach Elly, so nannte er seine Schwester liebevoll, zu suchen. Aber irgendwie war dieser letzte väterliche Wunsch in Vergessenheit geraten. Bis Janet, ambitioniert, kreativ, unstet und immer in Geldnöten, die fixe Idee entwickelte, Tante Elly hätte ein Vermögen und keine Verwandten, denen sie dieses vererben könnte. Bevor es irgendein Tierschutzverein bekam, oder, schlimmer noch, ein Verein zur Bewahrung deutscher Volkslieder (Janet hatte sehr rudimentäre Vorstellungen von Europa und seinen Bewohnern und hielt sie allesamt für hinterwäldlerische Nationalisten. Diese Vorstellung stieß sich übrigens nicht an ihrer Vorliebe für Donald Trump…), wollte sie, Janet Becker, ihr rechtmäßiges Erbe antreten.

Eile war geboten, denn Janet wusste, dass Tante Elly bereits die Schwelle zum zehnten Lebensjahrzehnt überschritten haben musste. Aber es dauerte dann doch ein paar lange Monate, bis sie Namen und Kontaktdaten von Elfriede Jost beisammenhatte. Was sie über ihre Großtante in Erfahrung brachte, war vielversprechend. Ihr verstorbener Mann, Manfred Jost, war Inhaber einer Kette von Bekleidungshäusern gewesen. Er war vor gut 20 Jahren gestorben, die Ehe war kinderlos geblieben, und Jost hatte keine leiblichen Verwandten. Da musste ganz schön was zu holen sein.

Die erste Kontaktaufnahme verlief etwas holprig. Um die alte und sicher schon recht demente Dame nicht zu sehr zu verwirren, hatte sie ihr vorab eine Mail geschrieben. Sehr vorsichtig und vage gehalten, denn sie musste davon ausgehen, dass der junge Betreuer sie Elly vorlesen würde. Die süße Alte konnte wahrscheinlich kaum noch aus den Augen schauen. Erstaunlicherweise kam Ellys Antwort schon nach ein paar Stunden. Freundlich, aber distanziert fragte sie nach Janets „Credentials“. Sie war nicht bereit, so ohne weiteres an eine plötzlich aufgetauchte Enkelin zu glauben. Es gäbe in Deutschland leider so viele Verbrechen mit der „Enkeltrick-Methode“, erklärte sie in ihrer in gutem Englisch geschriebenen Mail. Der Betreuer musste ein großes Interesse an Elly haben, um ihr so viel Zeit zu widmen. Oder – und das hielt Janet für wahrscheinlicher – er wollte sich das Geld der Alten selbst unter den Nagel reißen. Aber da hatte er die Rechnung ohne Janet gemacht.

Sie konnte die Verwandtschaft zu Großtante Elfriede lückenlos nachweisen. Und als sie schließlich das erste Mal telefonierten, sprach sogar Janets Dad ein paar Worte in dem gebrochenen Deutsch, an das er sich aus der Zeit mit seinem Vater erinnern konnte. Elfriede schien gerührt darüber, dass ihr Bruder quasi an seinem Totenbett an sie gedacht hatte. Wie schade, dass sie sich nie mehr gesehen hatten. Aber das Leben hatte sie einfach nicht mehr zusammengeführt. Wie gerne würde sie wenigsten einmal an Ernstens Grab stehen.

„Kein Problem, Auntie,“ sagte Janet. Ich komme nach Germany und hole dich ab. Dann musst du die weite Reise nicht alleine machen. What do you think? Und ich möchte so gerne die lovely Heimat meines Grandpas besuchen!“

„Aha. Na gut. Dann komm.“ Wenn Janet gedacht hatte, ihre liebe Auntie würde ihr ein Flugticket schicken, hatte sie sich allerdings getäuscht. Aber ihr Dad war plötzlich und ebenso unerwarteter- wie glücklicherweise komplett auf Familie gebürstet und kaufte Janet das Ticket. Sie selbst allerdings musste sich für eine große Investition in ihre goldene Zukunft von ihren besten Freunden das Geld für die Überfahrt für zwei Personen auf einem Luxusliner von Hamburg nach Ney York borgen. „Ihr kriegt es mit Zinsen zurück, sobald ich Auntie beerbt habe“, versprach sie ihnen. Und da ihrPlan dafür plausibel klang, hatte sie das Geld bald beisammen.

Erstaunlicherweise verstanden sich Janet und Elfriede vom ersten Moment an sehr gut. Janet war nicht nur ehrgeizig und bis zu einem gewissen Grad hemmungslos, sondern auch intelligent. Schnell akzeptierte sie, dass Auntie Elly noch komplett selbständig war und das Firmenimperium, das zwar nominell von ihrem Mann, de fakto aber von ihr geleitet worden war, immer noch beriet. Sie verfasste und las ihre E-Mails alleine, und Samuel, der gutaussende 35-Jährige, der bei ihr wohnte, war eine Mischung aus Sekretär, Koch und und Personal Trainer.

Für einen kurzen Moment dachte Janet daran, ihn in ihre Pläne einzuweihen, entschied sich aber dagegen. Teilen war einfach nicht ihr Ding.

Zwei Monate vergingen wie im Flug. Dann eröffnete Janet ihrer Großtante, dass sie ihr eine Überfahrt auf einem Luxusliner geschenkt hatte. „Du sollst genau so nach New York kommen wie dein geliebter Bruder“, lächelte sie. „Du bist wirklich bezaubernd, Janet“, antwortete Elly. „Und du hast sehr viel von meinem Bruder, deinem Großvater.“ „Ja, Blut ist eben dicker als Wasser“, sagte Janet. Und gestand, dass sie leider kein Ticket für Samuel gekauft hatte und das Schiff inzwischen komplett ausgebucht war.

„Dann reisen wir beide eben alleine“. Elly schien nicht das geringste Problem damit zu haben.

Die Überfahrt ließ sich sehr gut an, zumindest, solange die See ruhig war. Als das Wetter rauer wurde, blieb Janet öfter unter Deck. Ihr Magen vertrage die heftigen Bewegungen einfach nicht, erklärte sie. Und feilte an dem Plan, der sie noch vor Erreichen des heimatlichen Hafens zu Millionenerbin machen sollte – sofern die Elemente mitspielten.

Und dann endlich kam der ersehnte Sturm. Er war zu erwarten gewesen, in dieser Jahreszeit. Elfriede hatte auf dem Weg zum Dinner noch kurz bei Janet reingeschaut, aber die lag mit ungesund grüner Gesichtsfarbe im Bett.

Elfriede konnten Wind und Wellen nichts anhaben. Die Besatzung bemühte sich, alle Passagiere unter Deck zu bugsieren, als der Sturm an Stärke zunahm. Aber Elly wollte noch kurz das Naturschauspiel genießen.

Später versuchte der erste Offizier, den Hergang des Dramas zu rekonstruieren. Auf dem Weg zur Brücke war ihm die junge Amerikanerin begegnet, Janet Becker. Sie sei auf der Suche nach ihrer Tante, sie mache sich sorgen, weil die alte Dame doch nicht ganz sicher auf den Beinen sei, in ihrem Alter! Und dann dieser Sturm! Sein Angebot, mitzukommen, hatte Janet abgelehnt. Die Tante sei Fremden gegenüber noch sturer als mit Familienangehörigen. Er setzte also seinen Weg fort – und hörte plötzlich einen markerschütternden Schrei, der sogar das Sturmgeheul übertönte. Und dann hieß es auch schon: „Mann über Bord“, bzw. in diesem Fall „Frau“.

Der Offizier rannte an Deck und sah sich nach Janet um. Sie hatte es ganz offenbar nicht geschafft, ihre Tante rechtzeitig zu finden.

Doch dann entdeckte er Elfriede Jost, geb. Becker, in eine Decke gehüllt und von pitschnassen Helfern in Ölhäuten umringt, an der Reling stehen.

„Es ging alles so schnell“, sagte Elfriede später. Janet kam auf mich zu, streckte ihre Hände nach mir aus – und da kam diese Riesenwelle und spülte sie einfach von Deck. Schrecklich! Wenn ich nicht so dicht an der Trennwand gestanden und mich mit meinem Stock festgekrallt hätte, wäre ich sicher auch über Bord gegangen. Mein tägliches Fitnessprogramm mit meinem Personal Trainer hat mir wohl das Leben gerettet.“

Elfriede verkniff sich den salbungsvollen Satz „um mich alte Frau wäre es nicht schade gewesen, aber sie war doch noch so jung“. Stattdessen sagte sie: „Und sie erinnerte mich so an meinen Bruder.“ In Gedanken fügte sie inzu: „Genauso gerissen und skrupellos. Er hat mich damals einfach hier sitzenlassen und mich auch noch bei der Gestapo angezeigt. Um ein Haar wäre ich im Konzentrationslager gelandet, als Preis für seine Freiheit. Und Janet hatte wohl geplant, mich auf der Überfahrt beseite zu schaffen.“ Allerdings war Elfriede ihr zuvorgekommen. Auch, wenn sie es nicht gern gehört hätte: Blut war eben dicker als Wasser.

Da Elfriede die alleinige Nutznießerin der Lebensversicherung war, die sie kurz vor der Abreise auf Janet abgeschlossen hatte, gönnte sie sich, gemeinsam mit dem schon in New York wartenden Samuel, eine faszinierende Rundreise durch die USA. Leider reichte die Zeit weder für einen Kondolenzbesuch bei Janets Dad noch für einen Abstecher zum Grab ihres Bruders. 

Die Idee für diesen MiniKrimi kam mir beim Lesen einer Zeitungsnotiz, dass eine Riesenwelle eine Amerkanerin auf einem Schiff von Bord gespült habe.

Adventskalender Minikrimi am 22. Dezember


Foro: skeeze

Kreuzfahrt ins Weihnachts-Glück von Lydia Heck

Wo zum Teufel waren ihre schwarzen Seidenstrümpfe? Hatte sie etwa vergessen, sie einzupacken?  Ratlos stand Silvia vor dem Kleiderschrank in der luxuriösen Kabine des Kreuzfahrtschiffes. Genervt ging sie auf ihren Balkon, um eine Zigarette zu rauchen.  Wenigstens das hatte sie durchsetzen können.  Eine Kabine mit Balkon. Die milde Abendluft in der Karibik umstrich ihre nackten Beine. Schöne Beine für eine Endvierzigerin. Dennoch, zum Käpt’n s Dinner brauchte Silvia Strümpfe.  Jedenfalls, wenn sie das atemberaubende Kleid tragen wollte, dass sie für diesen Anlass gekauft hatte. Bodenlang zwar, aber mit einem sehr hohen Seitenschlitz versehen. Die Blicke der Männer wären ihr sicher, dennoch genügte das Kleid der Etikette. Aber mit Strümpfen!

Silvia suchte weiter. Die Balkontür ließ sie offen, damit der widerliche Altmännergeruch abziehen konnte. Wenn das mit dem Verursacher des Geruches doch auch so einfach wäre. Peter, Silvias Mann, war 75 Jahre alt. Dafür war er noch sehr gutaussehend, sogar noch attraktiv – und er wurde regelmäßig jünger geschätzt. Leider hatte Peter im Verlauf der letzten 7 Jahre abgebaut. Eine beginnende Demenz und der Herzinfarkt vor zwei Jahren. Schmal war er geworden und etwas wackelig auf den Beinen. Das fiel zwar nur Silvia auf, aber sie sparte in Momenten trauter Zweisamkeit nicht mit Spott darüber. 

Endlich fand die Strumpfhose und kleidete sich sorgfältig für den Abend an. Man konnte ja nie wissen, wer sonst noch am Tisch des Käpt‘ns sitzen würde. Das schwarze Samtkleid schmiegte sich perfekt an ihren Rundungen. Die schmale Taille wurde durch einen Gürtel inszeniert.  Silvia konnte sich nicht beschweren. Allein die Schönheitsoperationen hatten Peter ein Vermögen gekostet. Aber das war Silvias Bedingung gewesen für die Hochzeit mit einem so alten Mann. Nicht die einzige natürlich.  Teure Kleider, teurer Schmuck, ein Sportwagen, Reisen und ein großes Haus.  Nicht schlecht für eine ehemalige Kassiererin im Feinkostladen. 

Zur Komplettierung ihres Outfits durfte natürlich das Brillantcollier nicht fehlen, das Peter ihr zum letzten Hochzeitstag geschenkt hatte. Der letzte….  Die Idee kam ihr ganz unvermittelt. Was wäre, wenn ein tragischer Unfall ihre Ehe beenden würde? Erst kürzlich hatte Silvia gelesen, dass einige Menschen pro Jahr spurlos während einer Kreuzfahrt verschwanden. Im Meer. Einfach so. Die Leichen wurden meistens nie gefunden. Peter erwartete sie im Speisesaal. Im Smoking machte er immer noch eine passable Figur.  Auch sein Auftreten ließ keine Wünsche offen. Wie von einem ehemaligen Unternehmer nicht anders zu erwarten.  Während des sieben Gänge-Menüs kreisten Silvias Gedanken ununterbrochen um ihren Plan. Sie würde nach dem Essen einen Spaziergang an Deck vorschlagen.  An der Reling dann ein beherzter Schubs. Peter trank zum Essen immer sehr viel Wen. Zu viel, wie Silvia meinte. Und das würde ihr zugutekommen. An diesem Abend allerdings trank Peter nicht. Was Silvia allerdings nicht auffiel. Sie, die normalerweise nie mehr als zwei Gläser Wein zu sich nahm, war so nervös, dass sie fünf Gläser Bordeaux hinunterkippte.

Noch in der Nacht begann eine hektische, aber vergebliche Suche. Das große Schiff wendete mühsam, Strahler erhellten das unruhige Meer, sogar Rettungsboote gingen auf die Suche. Die Passagiere machten in dieser Nacht kein Auge zu. Auch Peter nicht. Aber aus einem anderen Grund. An Schlaf wollte er mit 35 jährigen Geliebten gar nicht denken. Er hatte sie an Bord kennen gelernt. Was danach kam, war ein Kinderspiel.  Den Spaziergang hatte Silvia sogar selbst vorgeschlagen.  Angetrunken, wie sie war, war sie leider über ihr langes, unpraktisches Kleid gestolpert. Und dabei über Bord gegangen. Schade nur um das Collier. 

Adventskalender Minikrimi am 10. Dezember


Foto: Tama66

Die Kreuzfahrer

Während der Zugfahrt versucht Matthieu, sich einzustimmen auf das, was ihn erwartet. Er ist katholisch erzogen worden. Gebetsbildchen mit einer fromm blickenden Muttergottes und dem Heiligsten Herzen Jesu, Weihrauch satt und warmes Holz atmende Beichtstühle. Unter einem Predigerseminar kann er sich auch nach einer ausgedehnten Internetrecherche kaum etwas vorstellen. Hartnäckig halten sich Visionen von gotischen Hallen, von flackernden Kerzen und düsteren Heiligenbildern, von strengen Rektoren und blassen Dozenten. Wie Jana, die bunte, quirlige Exzentrikerin, dort hinein passt, übersteigt seine Vorstellungskraft.

Und dann ist er da, Jana steht am Bahnsteig, nur Hände, Wuschelkopf und Beine schauen aus dem warmen Plüschmantel hervor. Als sie spricht, formen sich die Worte zu Atemwolken, so kalt ist es. „Schön, dass du da bist.“ Sie begrüßt Matthieu mit zwei Küsschen und einer Umarmung, so fest, dass er spürt, wie wichtig es ist, dass er ihrer Einladung gefolgt ist. Eigentlich war es mehr ein Hilfeschrei, untypisch für seine pragmatische Freundin aus der Kinderzeit. „Matthieu, hier im Predigerseminar passieren ganz  merkwürdige, schreckliche Dinge. Ich habe Angst. Kannst Du kommen?“

Matthieu ist Privatdetektiv, schreckliche Dinge sind sein Beruf. Seltsam, denkt er, wie sich die Rollen im Verlauf eines Lebens verändern. Früher war er es gewesen, der Jana um Hilfe gebeten hatte. Wenn sich eine Spinne in seinen Haaren verfangen hatte. Wenn er die Hausaufgaben nicht gemacht oder die Unterschrift der Eltern unter einer 5 vergessen hatte. Und jetzt wird ausgerechnet Jana Pfarrerin, und er löst die handfesten Probleme anderer Menschen.

„Eigentlich geht das schon länger so. Aber anfangs haben wir uns nichts dabei gedacht. Seit  zwei Wochen ist es richtig schlimm geworden. Ich bin nicht die einzige, die Angst hat, dass bald was Furchtbares passiert.“ Sie gehen durch die kalte Nacht zu dem Zimmer, das sie während der Wochen im Predigerseminar bewohnt.

Am ersten Tag nach ihrer Ankunft, erzählt sie, hatte jemand die gestaltete Mitte im Seminarraum des Hermeneutik-Dozenten auf verstörende Weise verändert: die liebevoll ausgebreiteten Herbstblätter waren mit roter Farbe übergossen und in Fetzen gerissen, so dass das blaue Seidentuch darunter aussah wie ein Schlachtfeld. Am nächsten Tag zur Andacht hing das Kreuz in der Kapelle verkehrt herum hinter dem Altar. Pfarrerin P. hatte fast der Schlag getroffen, und zwar wortwörtlich, denn gerade als sie die Untat näher besehen wollte, war das Kruzifix zu Boden gekracht. Es hatte sie nur um Millimeter verfehlt.

„Das ist mehr als ein dummer-Jungen-Streich“, muss Matthieu zugeben. Kein noch so frustrierter Vikar würde seinem Ärger auf diese beinahe mörderische Weise Luft verschaffen. Oder? „Es wird noch schlimmer, warnt Jana. Sie sitzen nebeneinander auf ihrem Bett, jeder mit einer Bierflasche in der Hand. Es ist warm, und bei Kerzenlicht sieht der kleine Raum beinahe gemütlich aus. „Beim Praxisbeispiel Gemeindearbeit sollte das Video von einem Gemeindefest laufen. Stattdessen sahen wir unseren Studienleiter sehr privat in einem Swingerclub.“ „Das ist natürlich peinlich, aber..“ „Er wurde dabei gefilmt, wie er eine Frau..also… wie er sie erwürgte. Er versicherte uns immer wieder, dass das ein Fake sei und er nichts damit zu tun habe, rein gar nichts.“ „Und, habt Ihr ihm geglaubt?“ „Du weißt ja, wie das ist. Selbst wenn nix dran ist, irgendwas bleibt immer haften.“ 

„Aber wer könnte denn ein Interesse daran haben, Eure Dozenten zu „dezimieren“? Matthieu kann sich ein Predigerseminar beim besten Willen nicht als Tatort vorstellen, ebenso wenig wie als Hort eines mordlüsternen Geistes. „Ich würde jetzt gerne diese Nacht darüber schlafen. Und morgen schaue ich mir dann alles an, vielleicht finde ich tatsächlich etwas heraus.“ 

Sie schlafen wie in ihren Kindertagen, eng aneinander geschmiegt, tief und entspannt. Sie haben sich schon immer gegenseitig Kraft gegeben.

Am nächsten Morgen begleitet Matthieu Jana zur Andacht. Sie sind die ersten und haben bereits einen Spaziergang durch den raureifweißen Seminargarten gemacht. Ein blasser Himmel wölbt sich über Dächer und Bäume, er verspricht Schnee und noch mehr Frost. Vor der Kirchentür trifft Jana die Frau des Rektors.

Inzwischen stößt Matthieu das schwere Holzportal nur mit Mühe auf. Etwas blockiert den Flügel von innen. Der Dozent für Gemeindearbeit. Er ist noch warm und liegt mit zertrümmertem Schädel in seinem Blut, neben dem Kopf auf dem Kirchenboden ein silberner Leuchter.

Während die Polizei ermittelt, sitzt Matthieu im Kreis der erschütterten Theologen. „Wer könnte ein Motiv gehabt haben, den Mann zu ermorden?“, fragt er in die Runde. „Er selbst – nachdem das Video schon auf Youtube zu sehen ist. Aber sonst?“ Sie sind alle ratlos. Eines ist klar, jetzt werden im Priesterseminar Köpfe rollen. Bildlich gesprochen! „Und das, nachdem der Rektor sich grade entschlossen hatte, seinen Ruhestand noch um zwei Jahre nach hintern zu schieben“, bemerkt Jana. „Naja, seine Frau wird sich freuen. Sie hat mir eben erzählt, dass sie ihm zu Weihnachten Tickets für eine Kreuzfahrt geschenkt hat. Die hätte sie in die Tonne werfen können, wenn er geblieben wäre. Des einen Freud….“

… ist des anderen Leid. Trotzdem. Matthieu kann es zunächst nicht glauben. Er betritt das Gebäude – und irgendwie ist alles so, wie er es sich ausgemalt hatte. Und doch auch ganz anders. Lange Flure, dunkle Türen, poliertes Parkett. Nischen mit Bildern, schweren Sesseln und Topfpflanzen. Er trifft den Rektor in der Bibliothek. „Ich fasse es nicht. Erst diese unsinnigen „Anschläge“, und jetzt auch noch ein Mord! Wer tut so etwas? Ausgerechnet hier?“

Matthieu erfährt, dass der Rektor tatsächlich geplant hatte, im Sommer in den Ruhestand zu gehen. Aber dann hatte sich die Suche nach einem Nachfolger schwierig gestaltet, er hat das Seminar „gut im Griff“, wie er sich ausdrückt. Und so war er von der Kirchenleitung gefragt worden, ob er sich eine Verlängerung seines Amtes vorstellen könne.  Er hatte zugestimmt. Erleichtert, denn die Aussicht, sein Büro, die Bibliothek und die langen Flure gegen noch längere Urlaubsreisen mit wildfremden Menschen, ausgedehnte Spaziergänge und vielfältige Arbeiten in Haus und Garten einzutauschen, war ihm wie eine düstere Drohung erschienen. Seine Frau hatte er nur im Nebensatz über die Planänderung in Kenntnis gesetzt. „jetzt muss ich natürlich umgehend meinen Sessel räumen. Nach allem, was passiert ist. Schade.“

Matthieu findet die Frau auf einer Bank vor der Kapelle. Schweigend sitzen sie nebeneinander. Das ist die Art, wie Matthieu seine Fälle löst. Dem Täter ganz zugewandt. „Ich bin am Ende doch etwas zu weit gegangen, mit dem Mord“; sagt die Rektorengattin schließlich. „Aber vielleicht geht er ja ohne mich auf Kreuzfahrt.“

„Du hättest auch Pfarrer werden können“, sagt Jana später. „Und du Detektivin. Du hast mich auf die Spur gebracht.“ Bevor er in den Zug einsteigt, küssen sie sich. Pfarrerin und Detektiv – vielleicht gar keine schlecht Kombination?