MiniKrimi Adventskalender am 17. Dezember


Manche Geschichten kann sich nur das Leben ausdenken. Und manchmal gehen die sogar noch halbwegs glimpflich aus. Damit das aber so bleibt, denkt bitte daran und tut das eure dazu: #AfD und #AfDVerbotjetzt.

Alexander der Große

Alexander ist behütet aufgewachsen. Als er 14 war, zogen seine Eltern aus dem Gärtnerplatzviertel hinaus in die neu erbaute Siedlung an der Minervastraße. Immer noch nah genug an der Innenstadt, aber noch näher an Wiesen und Feldern. Genau genommen beginnt die Ödnis bereits an dem kleinen Tümpel im Park. See? Lächerlich. Einmal hat Alexander mit seinen Freunden am Steg eine Flasche Wodka gesoffen. Es dauerte keine halbe Stunde, da waren die Bullen da. Von wegen „dein Freund und Helfer.“ Schergen der Bourgoisie waren das.

Überhaupt gefällt es Alexander so gar nicht in der MInervastraße. Alles ist so auf etepetete gebürstet. Die Leute tun so, als seien sie was Besseres. Sogar die Ausländer. Und die Schwulen. Und die Lesben. Und die aufgetakelten Tussis mit ihren frisierten Hunden. Alexander bezweifelt, dass die einem anständigen Beruf nachgehen. Die Ausländer werden wahrscheinlich vom Staat unterstützt, und die Tussen… naja, denen sieht ma doch an, womit sie ihr Geld verdienen.

Seine Familie passt nicht in die Siedlung. Das hat der Junge schon von Anfang an gespürt. Wie die Nachbarn geschaut haben, wenn der Vater abends mit seinem Metzgerei-Transporter vor die Tiefgarage gefahren ist! Und die Mutter ist auch viel bodenständiger als die anderen Frauen hier. Sie färbt sich die Haare selbst, und auch Alexander und der Vater lassen sich von ihr regelmäßig einen ordentlichen Schnitt machen. Die Eigentumswohnung war teuer genug, da müssen sie nicht auch noch viel Geld für einen Friseur ausgeben.

„Wir wohnen jetzt in einer exklusiven Wohngegend, Alexander“, hat die Mutter beim Einzug gesagt. „Schau, dass du immer gut gekleidet bist. Und benimm dich anständig.“ Am Anfang hat Alexander das auch tatsächlich versucht. Leider lebten und leben in der Siedlung nur ein paar Kleinkinder, die alle dort geboren sind. Keine Teens und Twens. Also hing Alex meistens mit seinen Kumpels aus der Realschule rum, am liebsten in der Stadt. Nur zum Zocken kamen seine Freunde ein paarmal mit zu ihm nach Hause. Aber nachdem er die Seitenblicke und das kaum verhaltene Lachen gesehen hat, mit dem sie die Spitzendeckchen auf dem Sofa, die Kuckucksuhr an der Wand und die Kittelschürze seiner Mutter bedachten, nahm Alexander niemanden mehr mit heim. Was denken die eigentlich? Seine Eltern sind anständige Leute, sie sind in Deutschland geboren und aufgewachsen, im Bayerischen Wald. Sein Vater hat sich alles hart erarbeitet, den eigenen Betrieb, die Wohnlandschaft, die Ferien an der Ostsee. „Fliegt ihr im Urlaub nie nach Dubai oder in die Dom Rep?“, hat ihn sein Freund Max mal gefragt.

„Warum? Wir finden es in Deutschland auch sehr schön. Und da versteht man wenigstens, wenn wir ein Bier bestellen.“

„Klar, ne?“ hat Max geantwortet, und damit war die Freundschaft der beiden dann auch vorbei.

Seine Eltern und er sind anders. Passen nicht in das Bild der Siedlung. Die Mutter trägt schon mal Alditüten statt Prada, der Vater sitzt mit Zigarette und Bier auf dem Balkon und nicht mit Champagner. Und er, Alexander, geht nicht auf ein privates Gymnasium, sondern auf die Realschule.

Im Sommer bleibt Alexander sitzen, und seine Eltern schicken ihn auf die BOS. In der Vorklasse lernt er ganz andere Leute kennen. Viel cooler als seine tranigen Realschulfreunde. Statt für’s Klima zu demonstrieren fährt Alex – so nennt er sich jetzt, um nicht so abgehoben zu klingen – mit seiner neuen Clique auf lauten Mopeds über Land, besucht Volksfeste und richtige bayrische Wirtschaften, nicht die teuren Clubs in der Innenstadt. Nur das Gaming hat er beibehalten. Online. Mit einer Handvoll Leuten, die ok sind. Vor allem Lisa. Sie ist saugut, nicht nur für ein Mädchen, sondern überhaupt. Wenn er bei Battlefield 6 gegen sie verliert, stört ihn das nicht. Manchmal ertappt er sich dabei, dass er sie gerne kennenlernen würde.

Seine neuen Freunde sind alle deutsch. Biodeutsch. Klar gibt es auf der Schule auch Ausländer, aber mit denen haben sie nichts zu tun. Eigentlich ist es voll ungerecht, dass die hier so lange zur Schule gehen dürfen, statt zu arbeiten. Wahrscheinlich kriegen die auch staatliche Ausbildungsförderung, und die Eltern sitzen daheim, trinken Tee und kassieren Bürgergeld. Und das alles, während es dem elterlichen Betrieb immer schlechter geht. Plötzlich wollen die Leute Biofleisch, am besten von Kälbern, die mit Mozart und Muttermilch aufgezogen worden sind. Und bitte lieber kein Schweinefleisch. „Wir haben zu Hause selbst ein kleines Schweinchen, wissen Sie“, hat kürzlich eine Kundin gesagt. Dass der Vater die hohen Preise dafür nicht zahlen kann, ist so einer eh egal.

„Es stimmt was nicht mehr, bei uns in Deutschland“, sagt der Vater immer öfter. „Der Staat malt den Teufel an die Wand und will uns vorschreiben, wie wir heizen sollen, will uns das Autofahren und unser Schweineschnitzel verbieten. Und den Ausländern schiebt er die Kohle hinten rein. Und den Transsexuellen. Den Behinderten. Ja, wenn du bei uns deutsch, gesund, normal und arbeitswillig bist, hast du schlechte Karten.“

Alex’s neue Freunde sehen das genauso. Sie treffen sich jetzt immer sonntags in der „Deutschen Eiche“ und reden beim Bier darüber, wie schlecht es ihnen und ihren Familien geht. Draußen stehen ihre Motorräder, Bikes und Autos. Aber das ist für sie kein Widerspruch. In letzter Zeit kommen immer wieder Vertreter einer neuen, deutsch nationalen Partei. Die reden nicht in geschwollenen Luftblasen wie die anderen, die „g’standenen“ Politiker. Die verstehen, worum es den jungen Leuten geht. Sie haben klare Ideen und geben Parolen und Visionen aus. Alex folgt ihnen in den Sozialen Medien, und die haben echt was drauf, findet er. Endlich fühlt er sich nicht mehr minderwertig. Endlich kann er’s allen zeigen. Seinen alten Klassenkameraden mit den grünversifften Halluzinationen, den arroganten Bewohnern in der Minervastraße, die auf seine Familie runterschauen.

Seine neuen Freunde wissen auch schon, wie.

Es ist Sommer, ein lauer Abend. Alex zieht sich die Sturmhaube über den Kopf, dann rennt er los, zusammen mit drei anderen. Sie haben Moliies in der Hand und werfen sie durch das Schaufenster in einen Laden im Erdgeschoss eines Altbaus mitten in Schwabing.

Der Laden ist ein Nest von linksgrünversifften Transen und Behinderten, hat ihnen Karl, der Parteigenosse, erklärt. „Wenn wir erst mal an der Regierung sind, schmeißen wir die alle in den Knast. Da sollen die erstmal lernen, gescheit zu arbeiten, statt auf unsere Kosten zu leben und uns dafür auch noch Vorschriften zu machen.“

Die Mollies explodieren nach Plan. Drinnen Schreie, ein Kind weint. Ein Kind?, denkt Alex. „Los, rein, die kaufen wir uns“, ruft Franz, ihr Anführer. Das Lokal ist offenbar kein linksterroristisches Zentrum, sondern ein Platz, an dem sich junge Leute zum Gamen treffen. Leute wie er. Überall Computer und Spielekonsolen, ein paar in Flammen. Franz drischt mit einem Baseballschläger auf die Geräte ein. Und auf den jungen Mann, der ihn davon abhalten will.

„Nein! Hilfe!“ Hinten in der Ecke sitzt jemand in einem Rollstuhl. Lange blonde Haare, die Feuer gefangen haben.

„Geschieht dir recht, du Terrrorschlampe“, lacht Franz. „Los, mach du auch mal was“, fordert er Alex auf.

Aber Alexander steht wie angewurzelt auf der Schwelle.

„Hilfe!“, schreit das Mädchen. Da zieht Alexander seine große schwarze Jacke aus und beginnt, es abzulöschen. So, wie er es mal in der Schule gelernt hat. Polizeisirenen nähern sich, seine Freunde laufen davon. Alexander bleibt. Er hält die Hand des Mädchens auch noch, als der Rettungswagen kommt.

„Wollen Sie mitfahren?“, fragt der Sani.

Doch da wird Alexander schon von zwei Polizisten zu Boden gedrückt.

„Lisa. Ich heiße Lisa. Besuchst du mich im Krankenhaus?“, ruft das Mädchen. Und dann, zu den Polizisten: „Er hat mir das Leben gerettet, wissen Sie?“

Und für diejenigen unter euch, die sich ein Happy End wünschen:

Fast wäre er Alex geworden. Aber Lisa nennt ihn Alexander. Alexander den Großen, ihren Retter. Er ist mit einer Bewährungsstrafe davongekommen. Und geht jetzt sonntags zum Gamen statt in die „Deutsche Eiche.“

MiniKrimi Adventskalender am 22. Dezember


Rache ist stärker als der Tod

Endlich. Die längste Nacht des Jahres. Genug Zeit und genug Bewegungsfreiheit. Livia schickt dem Ausgrabungsteam, das ihr das Schloss von den Füßen entfernt hat, einen innigen Dankesgedanken. Und die Archäologen haben sie auch umgedreht. Statt bröckeliger Erde sieht Livia nun eine Welt, die sich in 400 Jahren sehr und gleichzeitig kaum verändert hat. Der Friedhof mit dem eingezäunten Bereich, wo neben Livia noch andere Männer, Frauen und Mädchen begraben waren, die von den Dorfbewohnern als Vampire gefürchtet und mit entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen begraben wurden, sieht noch so aus wie damals. Ein kleiner Hügel mit struppigem Gras, fetter Erde und ein paar zerzausten Tannen. Unten sieht man das Dorf, und auch das hat sich von hier oben betrachtet kaum verändert. Niedrige Häuser ducken sich rund um das trutzige Steinkirchlein. Die Straßen bestehen immer noch aus Erde und Sand. Nur um die Kirche herum haben sie den Platz gepflastert. In den Häusern flackert Licht, und überall stehen Masten mit Leitungen. Aus den Schornsteinen quillt Rauch, und es riecht nach Holzfeuer. Livia hat auch nach dieser langen Ruhezeit keine Schwierigkeiten, sich in ihrer Heimat zurechtzufinden.

Sie klettert aus ihrem Grab, sammelt sich und betrachtet in einer Pfütze ihr Gesicht. Ein kleines Mädchen schaut sie an. Mit langen, wirren Haaren und einer vergilbten Kappe bis knapp über den stechend grauen Augen. Ein blasser, zusammengekniffener Mund im bleichen Gesicht. Ihr schwarzes Kleid ist von Würmern durchlöchert, die Schuhe verschimmelt.

Es gibt Schlimmeres. Wie zum Beispiel eine Sechsjährige zu einem Vampir abzustempeln, nur, weil sie ihren Bruder, den ersehnten Stammhalter, aus Eifersucht in den Hals gebissen hat. Livia hat damals ein Gespräch ihrer Eltern belauscht. „Zwei Kinder können wir nicht ernähren und standesgemäß aufziehen. Die Felder haben schon das dritte Jahr in Folge kaum Ernten erbracht, die Bauern können ihre Pacht nicht zahlen. Aber Theo brauchen wir, er wird meine rechte Hand und mein Nachfolger. Also: das Mädchen muss weg“, sagte der Vater.

„Aber wie willst du das anstellen?“, fragte die Mutter. Du kannst sie nicht einfach weggeben oder gar töten. Die Bauern würden das als Grund zum Aufstand nehmen.“

„Du wirst sehen, die Bauern werden die ersten sein, die ihren Tod fordern.“

„Wie das?“

„Ich erzähle im Wirtshaus, natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass ich fürchte, Livia sei zum Vampir geworden. Du erinnerst dich doch an den Tagelöhner, der mir im Sommer mit den Pferden geholfen hat?“

„Ja. Livia mochte ihn sehr. Sie saß abends oft bei ihm, wenn er auf der Mandoline spielte.“

„Genau. Ich sage, dass sie einmal nach Hause kam und zwei rote Flecken am Hals hatte. Und dann erzähle ich, wie sie Theo gebissen hat.“

„Die Bauern haben furchtbare Angst vor Vampiren! Sie werden sie steinigen. Das arme Kind!“

„Soweit lassen wir es nicht kommen. Wir geben ihr einen Trank mit Fingerhut, so dass sie im Schlaf stirbt. Man wird keine Verletzung an ihr finden, und das wird ein weiterer Beweis dafür sein, dass sie ein Vampir ist. Lass die Bauern sie begraben, mit allen nötigen Schutzmaßnahmen, damit sie nicht aus dem Grab aufstehen kann.“

Obwohl Livia vorgewarnt war, hat sie den Kakao getrunken, den ihr ihre Mutter ein paar Wochen später hinstellte. Als besondere Belohnung, weil sie den Bruder nicht mehr gebissen hat.

Dann lief alles so ab, wie der Vater es vorhersehen hatte. Livia starb, wurde begraben – und konnte erst jetzt, 400 Jahre später, ihr kaltes, dunkles Grab verlassen, in dem sie, mit dem Gesicht nach unten, damit sie nur in die Erde und nie wieder in einen Menschen beißen,  und mit einem schweren Schloss an den Füßen, damit sie nicht weglaufen konnte, gefangen war.

Aber jetzt ist sie endlich frei. Heute ist der Tag ihrer Rache.

Sie geht hinunter ins Dorf. Es ist stockdunkel in dieser längsten Nacht des Jahres. Und auch, wenn aus den Fenstern die bunten Bilder der Fernseher flackern und draußen die Straßenlampen ein gespenstisches Licht auf die Häuser werfen – die Angst vor Vampiren und Untoten ist lebendig in diesem kleinen polnischen Dorf, in dem die Neuzeit nur einen dünnen Mantel über Glauben und Bräuche des Mittelalters geworfen hat.

 Der Weg bis zu ihrem Elternhaus ist weit. Aber Livia spürt weder Kälte noch Furcht. Hier steht es, groß und stark hinter dem hohen Eisentor. Das Gutshaus, zu dem das Dorf und alle Ländereien gehören. Sie geht durch das Tor, als sei es nicht verschlossen. Drinnen auf dem gepflasterten Hof sieht es allerdings deutlich anders aus als im übrigen Ort. Große Kutschen stehen dort, aber ohne Kutschbock. Dafür glänzen sie in schwarz und blau. Aus den Ställen dringt Licht und Musik. Scheinbar leben dort jetzt Menschen und kein Vieh mehr.

Sie geht auf das Haupthaus zu. Links neben dem Eingang war der Küchengarten, den Livia besonders liebte. Jetzt hasst sie ihn, denn dort hat ihre Mutter den Fingerhut gepflückt, mit dem sie ihre Tochter getötet hat. Welche Mutter tut so etwas?

Vor der schweren Eichentür steht ein Mann. Groß, mit dunklen Haaren und einem kurzen dunklen Bart. In der einen Hand hält er etwas, das Ähnlichkeit mit den Zigarren hat, die ihr Vater – als einer der ersten in ganz Polen – rauchte. Er spricht in einen kleinen Kasten in seiner rechten Hand. Livia kennt das. Auf dem Friedhof machen das die meisten.

Da schaut der Mann auf und sieht Livia. „Nanu,“ sagt er. „Wo kommst du denn her? Wer bist du?“ Livia versteht seine Sprache, auch, wenn sie etwas anders ist als das Polnisch ihrer Zeit. Der Mann mustert sie. „Du warst wohl auf einer dieser Geisterparties zur Wintersonnenwende? Hast du dich verlaufen?“

Weil Livia nicht weiß, was sie antworten soll, verdreht sie die Augen und lässt sich stocksteif zu Boden fallen.

„Herrje, die Kleine ist ohnmächtig geworden. Ich muss Schluss machen, Oleg.“

Dann hebt der Mann Livia auf und trägt sie ins Haus. In den nächsten Stunden bemühen Andrej, so heißt er, und Olga, seine Frau, sich um das Mädchen. Sie flößen ihr Wasser und dann Brühe ein. Als sie die Augen aufmacht, tragen sie sie ins Badezimmer und legen sie in eine Wanne voll duftendem Schaum. So etwas gab es bei Livias Eltern noch nicht!

Sie schließt die Augen und hört Andrej und Olga flüstern. „Ja, ich weiß, wir sollten sie der Polizei melden. Aber sieh nur, wie sie ausschaut. Als sei sie gerade dem Tod entronnen. Wir kümmern uns erst mal um sie. Wir wollten doch schon immer ein kleines Mädchen haben, oder? Und natürlich schauen wir ins Internet, ob irgendwo ein Kind vermisst wird.“

„Wer lässt seine Tochter schon mitten in der Nacht alleine? Solche Eltern haben das Kind sowieso nicht verdient. Gut. Wir machen das so, wie du vorgeschlagen hast. Und wenn jemand fragt, dann ist sie das jüngste Kind deiner Cousine. Etwas behindert. Das erklärt, warum sie nicht spricht. Sie soll ein paar Monate bei uns auf dem Land bleiben.“

Und so lebt Livia von Stund an bei Olga und Andrej. Mit der Zeit „taut“ sie auf und beginnt sogar, zu sprechen. Ihren Plan, in ihrem Elternhaus zurück in die Vergangenheit zu gehen und sich an ihren Eltern für den Mord an ihr zu rächen, hat sie aufgegeben. Jetzt geht es ihr gut. Endlich. Und hat sie nicht ein Recht darauf, nach 400 Jahren in einem modrigen Grab?

Heute ist es genau ein Jahr her, dass Livia zu Andrej und Olga gekommen ist. Im Dorf haben sie die „Nichte“ schnell akzeptiert. Sie geht sogar zur Schule. Sie trägt die schönste Kleidung, ganz anders und viel bequemer als das, was sie in ihrem ersten Leben anziehen musste.

Sie sitzen beim Abendessen. Der Tisch ist besonders festlich gedeckt – zur Feier des Tages. „Nun bist du schon ein Jahr bei uns, liebe Livia. Du hast uns so glücklich gemacht. Du bist unser Sonnenschein. Olga und ich haben so lange vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen. Und dann standst du auf einmal vor unserer Tür!“

„Ja, du bist unser großes Glück. Und ich bin überzeugt, dass das, was wir dir jetzt gleich erzählen werden, auch nur deshalb passieren konnte, weil du bei uns bist. Schau, Livia, du wirst einen kleinen Bruder bekommen. In einem halben Jahr bist du die große Schwester. Freust du dich?“

Livia starrt Olga und Andrej an. Es ist, als würde ihre Lebensgeschichte noch einmal von vorne beginnen. Sie steht auf, ohne zu bemerken, dass sie dabei den Stuhl umstößt. Sie rennt die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Ihr altes Zimmer. Ihr neues Zimmer mit allem darin, was ein Mädchenherz sich nur wünschen kann. Aber wie lange wird es ihr noch so gut gehen? Livia weiß, was passiert, wenn ein zweites Kind in die Familie kommt.

Doch diesmal ist sie vorgewarnt. Diesmal wird man sie nicht überraschen. Überrumpeln.

Livia lässt sich Zeit. Ein halbes Jahr lang tut sie so, als freue sie sich auf den Nachwuchs. Und als Konstantin dann auf der Welt ist, beobachtet sie ihre neuen Eltern sehr genau. Ja, es ist so, wie sie befürchtet hat. Alles dreht sich plötzlich um den Kleinen. Gut, Andrej fährt sie weiterhin zum Ballett und zum Reiten. Olga liest ihr jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vor. Und sie hat die beiden noch nie dabei belauscht, wie sie Pläne schmieden, um Livia wieder loszuwerden. Aber das bedeutet gar nichts. Sicher hat sie es nur nicht mitbekommen.

Dann, eines Tages, ist es soweit. „Livia, wir müssen für eine Woche nach Frankreich. Arbeit. Konstantin nehmen wir mit. Aber du musst hierbleiben. Du hast Schule, Reiten, Ballett. Olgas Freundin Nadja wird auf dich aufpassen. Und wir sind in einer Woche wieder da und bringen dir was ganz Tolles mit. Was wünscht du dir am meisten? Eine große Mickey Maus? Oder einen Tüllrock?“

Livia schaut die beiden aus ihren großen, stechend grauen Augen an.

Später, als Konstantin seinen Mittagsschlaf hält, schleicht sie zu ihm ins Zimmer. Wie friedlich er da liegt. Ein rosa Gesichtchen, umrahmt von blonden Locken. „Er ist viel schöner als ich“, denkt Livia. „Ich hasse ihn.“

Sie beugt sich zu dem Baby hinunter. Und beißt zu. Kräftig. Das Blut schmeckt süß. Sie kann gar nicht genug davon trinken.

Dann geht sie in ihr Zimmer. Zieht an, was sie trug, als sie aus dem Grab gestiegen ist. Hinauf auf den Hügel, zum Friedhof, in den Teil für Vampire. Sie legt sich in ihr Grab. Mit dem Gesicht nach unten. Das Schloss umschließt ihre Füße. Aber den Schlüssel gräbt sie in die Erde unter sich ein. Sie wird noch ein paar Jahre warten. Jahrhunderte, vielleicht. Und es noch einmal versuchen, mit ihrer Rache.

Konstantin, der offenbar am plötzlichen Kindstod gestorben ist, wie die Eltern sagen, wird auch auf dem Friedhof begraben, nicht allzu weit von Livia entfernt. „Das war bestimmt ein Vampir“, flüstern die Alten. „Habt ihr gesehen, wie blass das Kind war? Und wieso ist das kleine Mädchen so plötzlich verschwunden, gleichzeitig mit dem Tod des Jungen?“ Aber wer hört schon auf sie?

Diese Geschichte ist entstanden, nachdem ich vom Fund eines „Kindervampirs“ in einem polnischen Dorf gelesen habe.  

Adventskalender MiniKrimi am 10. Dezember


Mein Engel

Es war ein sonnig kalter Dezembertag. Morgenrot belegte die braungrauen Äste mit einem Frühlingslächeln und lud sie ein, sich in den oberen, reifbekränzten Fensterscheiben der Altstadthäuser zu spiegeln. Justus ließ den Motor laufen, während er das Taxi von Eis und Schnee befreite. Die Vollzeit-Kollegen durften neue Garagen-Autos fahren. Für ihn als Teilzeit-Taxler hatte die Zentrale nur die ältesten Modelle mit Laternenparkplatz übrig. Aber wenn Gabi die Aufträge verteilte, bekam er wenigstens Fahrten mit guten Stichen. So wie jetzt: Abholung am Nymphenburger Kanal, Ziel: die Dermatologische Klinik in der Innenstadt. Runde 30 Euro – ein guter Start in den Tag. 

Justus war schon ein paar Minuten vor der bestellten Abholzeit an der angegeben Adresse. Ein dreistöckiges Jugendstilhaus, dessen Balkone auf den gefrorenen Kanal mit den Eisstockbuden und Bahnen schauten. Bei laufendem Motor wartete er darauf, dass sein Fahrgast aus der hohen Tür trat. Da klopfte es an seine Scheibe. „Guten Morgen, ich habe ein Taxi bestellt.“ Die junge Frau war klein und zart, mit langen roten Locken, in denen glitzernde Eiskristalle nisteten. Ihre Haut hatte die Transparenz einer Teetasse, die Augen darin wie kräftiger Earl Grey, Nase und Mund unsichtbar hinter der schwarzen Maske, der Körper eingehüllt in ein schwarzes Cape.

Während der Fahrt unterhielten sie sich, und es fiel ihm erst hinterher auf, dass sie nicht eine einzige Belanglosigkeit ausgetauscht hatten. Dass dieses Wintermorgenlicht Mut in den Tag goss, bis man meinte, überzufließen vor Lebenslust. Dass die Krähen genau wussten, wer ihnen Futter bringen und wer sie mit Steinschleudern jagen würde, noch bevor ihnen jemand begegnete. Und, aber da waren sie schon fast an dem ehrwürdigen Klinikgebäude angekommen, dass sie beide studierten, er Kunst und Musik und sie Dramaturgie. „Es gibt keinen Zufall“, sagte sie durch die geöffnete Wagentür. „Bis……“. „Ja, bis…..“, antwortete Justus. Und sah zu, wie die kleine Gestalt, schwarz und rot, in dem großen Gebäude verschwand.

Diese Episode wiederholte sich an den darauffolgenden Tagen. Er wartete mit seinem Taxi vor dem Jugendstilhaus, nie gelang es ihm, zu sehen, wie sie aus der Tür trat. Immer klopfte sie unvermittelt an die Scheibe. Nie waren es Belanglosigkeiten, über die sie während der Fahrt sprachen. Stattdessen entdeckten sie immer mehr Gemeinsames. Theatergeschmack, Musik, Literatur. Ja, auch in ihrer Vergangenheit hatten sie oft das Gleiche gesucht, gewollt oder gemacht. Hatten Stunden damit verbracht, Fledermäuse zu zeichnen, waren zu Fuß von Bozen nach Venedig gewandert und hatten sich über Nacht in einer Kirche einschließen lassen, heimlich, um nach unterirdischen Geheimgängen zu suchen. 

Nur den Grund für ihre täglichen Besuche in der Klinik verschwieg sie ihm. Und Justus fragte ebenso wenig danach wie nach ihrem Namen. „Sie wird mir alles sagen, dann, wenn sie soweit ist,“ dachte er. Und er wusste: sie war der Grund, warum er seit Jahren Taxi fuhr, mit geringem Verdienst und großer Anstrengung. „Es gibt keinen Zufall.“

Dann kam ein Morgen, an dem die Schneewolken tief in den Himmel hingen. Der Tag wollte nicht aufwachen und sich das wenige Licht lieber schenken, denn es war Wintersonnwende und ohnehin in wenigen Stunden schon wieder ganz dunkel. „Hol mich heute Nachmittag wieder ab. Ich warte auf der anderen Straßenseite, vor dem Friedhof. Um fünf.“

Eigentlich hatte Justus an diesem Abend gar keine Schicht. Und kein Taxi. Den halben Tag verbrachte er damit, sich das Auto eines Freundes zu organisieren. Die andere Hälfte entpuppte sich als Folge kleiner Ewigkeiten, endlos aneinander gereihte Minuten.

Um fünf stand er vor dem Friedhof. Längst lag ein schwarzer Mantel über den Dächern, das Krankenhaus gegenüber trug ein graues Nebelgewand, durchbrochen von gelben Rechtecken, in denen Figuren sich bewegten wie in einem magischen Theater. Das Friedhofstor schien ins Nichts zu führen, oder direkt in das dunkle Herz derallerlängsten Nacht.

„Justus, da bist du ja. Komm.“ Aus dem Nebel hinter dem einen Spalt breit geöffneten Friedhofstor griffen kalte Finger nach seiner Hand. „Komm, oder hast du Angst? Ich will dir was zeigen. Das musst du sehen.“

Ihre Stimme war heiser, und ihre feuchten Locken verdeckten halb ihr Gesicht, in dem er ihre Augen erahnen konnte, die Farbe von starkem Earl Grey. Und ihren Mund. Groß und rot. Sie trug keine Maske. „Ist dir noch nie aufgefallen, dass wir die gleichen Haare haben? Und Augen?“, fragte sie. Und ja, es stimmte. Und nein, es war ihm noch nie aufgefallen. Justus betrachtete sich selten im Spiegel. Zu oft hatte er gehört, er sähe aus wie ein Mädchen. „Komm, Justus. Komm weiter.“ Und sie zog ihn tiefer und tiefer hinein zwischen die verwitterten Grabsteine, die efeuumrankten Statuen, Kreuze und Grabmale. Vor einem Engel blieb sie stehen. „Hier sind wir, Justus. Schau nur.“

Der Name auf dem Grabstein war der seiner Familie. Von Wagner. „Na und? Es gibt viele, die so heißen.“ „Ja. Ich auch.“ „Wie, du auch?“ „Ich heiße so wie du, Justus. Du bist mein Bruder. Ich bin deine Schwester. Und das ist das Grab unserer Urgroßeltern.“ „So ein Quatsch“, murmelte Justus, der als Student zwar Romantiker war, aber jetzt von dem pragmatischen Taxifahrer übertönt wurde. Dieser fühlte sich vor der Kulisse nachtdunkler Gräber plötzlich äußerst unwohl.

„Ach, Justus. Du spürst es doch auch! Wehr dich nicht dagegen. Es gibt keine Zufälle. Ich brauche dich. Nur du kannst mir helfen, nur du kannst mich retten.“ Und sie drehte ihm ihr Gesicht zu, dessen untere Hälfte von einem tiefdunklen Feuermal entstellt war. „Ich brauche dein Blut, deine zarte, weiße Haut. “ 

Aus der Manteltasche zog sie ein Skalpell, und mit raschen Schnitten trennte sie seine Haut von der Wange. So schnell, dass Justus kaum schreien konnte, bevor er ohnmächtig vor Schmerz am Fuß des Engels zusammenbrach.

Justus überlebte, allerdings nur, weil ihn ein paar angetrunkene Burschenschafter auf Mutprobentour entdeckten und ohne zu zögern ins Krankenhaus gegenüber brachten. Während seines Klinikaufenthaltes recherchierte er viel und fand ein paar Zeitungsartikel, die von einer wunderschönen, psychisch kranken Frau berichteten, die davon besessen sei, ihren Naevus flammeus durch Transplantation heilen zu können und dazu junge, mädchenhaft aussehende Männer stalkte. Ihr fehlte offenbar das Geld für eine aufwändige Lasertherapie.

Adventskalender MiniKrimi am 3. Dezember


Voll das Leben

„S2 Richtung Ostbahnhof. Vorsicht bei der Einfahrt.“

Die Türen gleiten auf, ein Strom kleinäugiger Menschen mit schlafverhangenen Blicken über weißen Einheitsmasken ergießt sich auf den Bahnsteig, vermischt sich kurz mit dem Strom der Einsteigenden, ebenso kleinäugig und maskenbewehrt, dann trennen sich die beiden Ströme, der eine fließt die Rolltreppe hinauf, der andere verteilt sich auf die Plätze in der S-Bahn.

Er setzt sich ans Fenster. Gegen die Fahrtrichtung. Kehrt dem Tag schon am Morgen den Rücken zu. Weiß, dass eh nichts Besonderes passieren wird, nichts, was diese 24 Stunden von denen davor und denen danach unterscheiden wird.

Er klebt die Stirn an die Scheibe, draußen rast der Winter vorbei, blauer Himmel, weißer Zucker auf Dächern, Ästen, Wiesen. Sein Telefon vibriert in der Jackentasche. Er holt es raus: kein Anruf. Aber etwas vibriert neben ihm. Er tastet in der Ritze zwischen Sitz und Wand: ein zerkratztes Smartphone, kein neues Modell. Eine lange Reihe abgehackter Nachrichten. „Suse, ich kann dich nicht erreichen! Hilfe!!“ „Suse, ich halte das echt nicht mehr aus! Was soll ich machen?“ „Jetzt kommt er schon wieder an. Und wie er stinkt! Ekelhaft! Widerlich! Er oder ich. Ich glaube, ich bringe ihn um.“ „Suseeee???? Wo bist du?“

Plötzlich steht er nicht mehr neben seinem Leben. Er steckt mittendrin. Einen Wimpernschlag lang ist er versucht, das Smartphone einfach wieder neben den Sitz zu stecken. Nicht seine Welt. Nicht sein Problem. Aber dann steckt er es ein. Am Sendlinger Tor nimmt er nicht wie üblich den Ausgang Richtung Nussbaumstraße. Er schlendert in den Park an der St. Matthäuskirche. Kopiert die Nummer, von der die Nachrichten stammen. Schließlich schreibt er. „Hey, ich habe Suses Handy in der S-Bahn gefunden. Kann ich helfen? Ich bin Marc.“

Nichts passiert. Er geht an seinen Arbeitsplatz. Gegen Mittag schaut er zum x-sten Mal ins Mikroskop, ohne etwas zu erkennen. Sein Handy vibriert. „Hi Marc. Voll cool von dir. Aber du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das. Suse auch nicht. Vergiss mich einfach.“

Er wählt die Nummer. Wartet, bis die Stimme ihm mitteilt, dass der Gesprächspartner nicht erreichbar ist. Er schreibt: „Warte! Es gibt immer eine Lösung. Heute morgen dachte ich noch, die Welt kommt gut ohne mich aus. Und dann du. Glaub mir, da geht noch was. Egal was los ist. Gib nicht auf. Bitte.“

Diesmal kommt die Antwort so schnell, als hätte sie – oder er? – auf Marcs Nachricht gewartet. „Voll süß von dir. Aber nein. Ich kann nicht anders. Er quält mich einfach schon zu lange. Mich. Und sich. Irgendwann ist Schluss. Irgendwann ist JETZT!“ 

„Nein! Warte! Wo bist du? Ich komme zu dir, ok?“

„Nein!“ Und dann, nach 10 Minuten: „Es ist vorbei.“

Ihm wird kalt. Ihm wird heiß. Angst packt ihn im Genick. Dann Panik. Er gleitet an der Wand des Labors zu Boden. Zittert. Weint. Ist das das Leben? Ist es das wert? Sein Handy vibriert. Auf dem Bildschirm erscheint ein Foto. Eine junge Frau mit roten Haaren und roten Augen umklammert etwas, das er auf den dritten Blick als ziemlich räudige, kahle, graue Ratte erkennt. „RIP Artur. Alter Kerl. Und auch all deine Flöhe,“ steht unter dem Bild.

Süßes, Saures, Totes.


„Maaaamaaa, jetzt komm. Ich kriege das Kleid nicht zu!“ Ela steht in ihrem Zimmer vor dem Schminkspiegel und betrachtet sich kritisch. Wenn sie ehrlich ist, erkennt sie sich kaum, und das liegt nicht daran, dass ihre rechte Gesichtshälfte wie ein Totenkopf geschminkt ist, matt weiß mit einer halben Reißverschlusslippe und schwarz übermaltem Augenlid. Ihr Zimmer ist in Dunkelheit gehüllt, einzig eine unruhige Kerze flackert in einem Halloweenkürbis aus Ton, und um den Spiegel rankt sich eine Lichterkette aus fluoreszierenden Knochen. Sie tauchen die Tiegel, Tuben, Fläschchen und Töpfchen auf dem Schminktisch in gespenstische Neonfarben. 

„Hey – spinnst du?“, protestiert Ela, als die Mutter endlich ins Zimmer tritt und automatisch den Lichtschalter neben der Tür berührt. Das Mädchen kneift die Augen zusammen, die Mutter die Lippen. „Wie schaust du denn aus? Willst du wirklich so auf die Straße?“ „Gruselig, gell?“ „Also ich finde das cringe“, antwortet die Mutter und grinst. „Sheesh, Mum, das ist echt mega peinlich. Ich hab mit Mona und Yassi ne Wette laufen, wer am geilsten aussieht, und ich will gewinnen.“ „Ah. Und was?“ „Ne Fla..… sche Cola. Hilfst du mir bitte mit dem Reißverschluss, Mami?“ 

Elas Mutter zögert nur kurz. Egal, welche Flasche es heute Abend zu gewinnen gibt. Sie wird ihrer Tochter keine Gelegenheit geben, sie zu trinken. Eigentlich hat sie kein gutes Gefühl dabei, die 13-Jährige bei Dunkelheit durch die Straßen streunen zu lassen. Aber sie ist mit ihren Sorgen nicht durchgekommen. Vor allem, weil ihr Mann auf Elas Seite stand. „Du bist eine ewige Bedenkenträgerin. Wenn es nach dir ginge, würde Ela noch in Windeln rumlaufen. Was soll ihr in unserer Wohngegend schon passieren? Lauter Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten und Mittelklasseautos in der Garage. Sogar die Kürbisse an den Gartentoren sind Massenware und kein bisschen gruselig. Außerdem sind heute Horden von Kids unterwegs! Aber wenn es dich beruhigt, machen wir eine Zeit aus, um die Ela wieder daheim sein muss. Halb neun, ok?“ „Mann, Papa, das ist VIEL zu früh!“, hatte die Tochter protestiert – doch nur, um sich schließlich geschlagen zu geben.

Und nun steht sie in ihrem rosaroten Mädchenzimmer, mit dem Gesicht eines Zombies, die Haare wild auftoupiert, in einem Kleid aus schwarzen und blauen Fetzen. Satin und Spitze und viel nackte Haut. 

Süßes oder Saures

„Willst du wirklich SO rausgehen? Nimm wenigstens ne Jacke mit.“ „Ach Mum, mach dir keine Sorgen. Wir rennen die ganze Zeit rum. Da schwitzen wir total. Und in den Häusern ist es sowieso geheizt.“

„IN den Häusern? Ich denke, wir hatten abgemacht, dass Ihr auf KEINEN FALL irgendwo reingeht….“

„Oh Mann, das ist jetzt wirklich cringey. Hey, das sind Yassi und Mona. Sag ihnen, ich bin gleich unten.“

Vor der Tür stehen eine Hexe und eine Vampirin, komplett mit blutigen Zähnen und einem Atem, der wie frisch aus dem Grab entstiegen riecht. Oder aus der Tankstelle. „Na, Ihr habt wohl schon vorgeglüht?“, fragt Elas Mutter. Aber bevor die beiden Mädchen ihr Augenrollen mit entsprechenden Worten begleiten können, ist die dritte im Bund schon die Treppe runtergepoltert – in schweren Springerstiefeln. Nach einem wilden Bussi-bussi-Ritual stürmen die drei Richtung Gartentor. „Viel Spaß“, ruft Elas Mutter ihnen hinterher – aber keine der drei schwarzen Gestalten dreht sich um oder antwortet.

Für immer im Blick

Dieses Bild wird sie immer vor Augen haben: Ihre Tochter mit den besten Freundinnen, eingehakt und kichernd, umhüllt von feinem, laternengelb gefärbtem Nebel. Vor ihnen die Nacht.  Ohne Horizont und ohne ein Morgen.

Die Siedlung am Rande der Stadt ist an diesem „All hallows ewe“, dem Vorabend von Allerheiligen, voller Leben. Scharen von Kindern, maskiert, kostümiert, mit Tüten und Rucksäcken, tanzen springen rennen jubelnd die Straße entlang. „Wir klingeln nur an den Häusern, die Kürbisse vor der Tür haben,“ schärft Ela ihren Freundinnen ein. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen will – die Sorgen ihrer Mutter haben feine Spuren in ihren Gedanken hinterlassen. Um sie abzuschütteln, nimmt sie einen großen Schluck aus der Wodkaflasche, die Yassi mitgeschmuggelt hat. „Yesss. Schon besser“, murmelt sie. „Hey, worauf wartet Ihr? Los – wer als erste an der Tür da drüben ist.“ 

Zwei Stunden vergehen wie im Flug. Ihre Tasche füllt sich mit allem Möglichen. Gummibärchen, Schokoriegel, aber auch süße selbstgebackene Kürbis-Kekse. Von der Studenten-WG haben die drei sogar jede einen Shot zugesteckt bekommen – „aber trinkt die aus, bevor Ihr heimgeht. Und von uns habt Ihr die nicht, ok?“ Langsam leeren sich die Straßen. Die kleineren Kinder sind längst wieder bei ihren Eltern. Jetzt sind nur doch die Jugendlichen unterwegs. Jetzt wird es erst richtig spannend.

Da klingelt Elas Handy.  Ihr Vater. „Ela, es ist viertel nach acht. Du hast versprochen, in 15 Minuten daheim zu sein.“ Ela unterdrückt einen Fluch. Sie weiß, dass sie mit ihrem Vater keinen Verhandlungsspielraum hat. Ein Wort ist ein Wort, so war das schon immer. Und nur, weil sie sich daran hält, lässt er die Zügel locker. So wie heute.

„Leute, ich muss….“

„Ach Mann, jetzt schon? Es fängt doch grade erst an, lustig zu werden. Wir wollten doch noch in das Eckhaus da drüben. Das mit dem großen Kürbis, dem Blut aus dem Mund fließt….“

„Ne, Ihr, ich muss wirklich heim. Sonst darf ich nächstes Mal nicht mehr mit. Und das Haus da ist echt zu gruselig. Da muss man ja ewig durch den Garten laufen, bis man zur Tür kommt. Außerdem brennt gar kein Licht. Also – ich geh dann mal. Ciao.“

„Ok – ciao dann.“ Mona und Yassi werfen Ela nur noch ein flüchtiges Bussi zu, dann drehen sie um und rennen kichernd zurück zur Bushaltestelle. Auf den Bänken haben sich ein paar Jungs aus ihrer Schule niedergelassen. Ela ist sofort vergessen.

Ein Fest für die Toten

Sie zuckt die Schultern und geht langsam den Weg hinunter. Einsam ist es hier, und zwischen den Lichtkreisen, die die Straßenlaternen auf den Bürgersteig gießen, verbinden sich Unten und Oben zu undurchdringlichem Dunkel.. Nebelfinger streifen ihr Gesicht, verfangen sich in Haar und Kleidung. Klamm. Kalt. Und unheimlich. Wenn sie an dem Haus mit dem Riesenkürbis rechts durch den kleinen Park geht, ist sie gleich zu Hause. Fünf Minuten statt zehn. Sie kennt die Abkürzung, nimmt sie fast täglich auf dem Rückweg aus der Schule. Der Weg durch den Park ist nicht dunkler als die Straße, auch dort warten in Abständen helle Laternen. 

Jetzt steht Ela vor dem Gartentor des Eckhauses. Sie bleibt kurz stehen, der Kürbis sieht wirklich beängstigend aus. Aber er ist auch gut gemacht. In den dreieckigen Augen leuchtet ein heimliches Feuer. Die scharfen Zähne sind exakt ausgeschnitten, an ihren Spitzen und in den Winkeln des breit grinsenden Mundes glitzert es blutrot. 

Plötzlich fällt ein warmer Lichtstrahl auf den Pfad zwischen Gartentor und Haus. Die Tür steht einen Spalt breit offen, ein Mensch tritt auf die Schwelle, hält etwas in der Hand. Ela will weiterlaufen, aber irgend etwas hält sie fest. Es ist das Licht, das den dunklen Nebel vertreibt. Sie würde sich gerne aufwärmen. Nur einen kleinen Augenblick. Nicht alleine sein. Der Mensch kommt ihr entgegen, sie sieht sein freundliches Lächeln. „Keine Angst!“, errät er ihre Gedanken. Dann steht er vor ihr auf der anderen Seite des Gartentors. Streckt ihr einen Teller entgegen, darauf liegen kandierte Früchte, kleine mit buntem Zucker bestreute Küchlein und winzige Pralinen in bunten Farben. „In den roten ist etwas Alkohol“, sagt der Menschen. „Vielleicht nimmst du lieber die anderen.“ 

Ela zögert. Dann greift sie über das Gartentor. „Mmmhh, lecker.“ Und dann: „danke.“ „Nimm ruhig noch eine kandierte Erdbeere. Ganz frisch. Habe ich heute morgen gemacht.“ 

„So viel Mühe für die Kinder?“, fragt Ela verwundert.

„Nein, eigentlich nicht für die Kinder“, erklärt der Mensch. „Für die Toten.“ Ela reißt die Augen auf, das helle, blaue, und das schwarz geschminkte. „Für die Toten?“ 

Süßes für die Toten

„Ja. Weißt du denn nicht, dass am Abend vor Allerheiligen die Wände zwischen den Welten durchlässig werden? Dann kommen die Toten aus ihren Gräbern und besuchen ihre Familien. Um sie freundlich zu stimmen, müssen wir ihnen viele Leckereien anbieten. Am liebsten mögen sie Süßes.“

„Das habe ich noch nie gehört.“ Ella ist skeptisch. Dann fällt ihr ein: „Ich muss heim. Danke. Und – einen schönen Abend… mit wem auch immer.“ 

„Natürlich. Ich will dich nicht aufhalten. Aber – warte mal! Willst du etwa durch den Park gehen? Komm kurz mit rein. Ich gebe dir eine Taschenlampe mit. Das ist sicherer. Du kannst sie mir in den nächsten Tagen einfach in den Briefkasten legen…“

Der Mensch ist freundlich. Überhaupt nicht gespenstisch. Total normal. Abgesehen von seiner komischen Story über die Toten, die zum Essen kommen. Und eine Taschenlampe wäre schon cool.

„Ok, danke, total nett.“ Ela folgt dem Menschen durch den dunklen Garten ins Haus. Dem Lichtstrahl entlang. Drinnen umfängt sie die Wärme von einem Meer flackernder Kerzen. Sie stehen überall. Auf Kommoden und Tischen, auf Schränken und silbernen Leuchtern, sogar am Boden ist eine Teelichter-Spur ins Esszimmer gelegt. 

„Du kannst ruhig einen Blick auf den Esstisch werfen, während ich die Taschenlampe suche.“

Dinner for none

Feines Porzellan auf blütenweißem Damast, Kristallkelche, Karaffen voll rotem Wein, Teller mit Speisen, wie Ela sie nur aus Filmen kennt. Hummer, Rehrücken, goldgelbes Brot, Trauben, exotische Früchte und üppige Torten. Der Tisch ist für vier gedeckt. Drei Stühle sind leer. Auf dem vierten kauert ein Hausschwein mit Diamantenhalsband. Es grunzt Ela an, aber rührt sich nicht vom Fleck. 

„Nimm Platz, mein Kind. Mutter wird gleich kommen. Die Gruft ist ganz in der Nähe. Sie verspätet sich nie. Sie weiß, dass ich immer eine besonders zarte Überraschung für sie bereithalte.“ 

Der Mensch setzt Ela an den Tisch. Er hat etwas Mühe, denn der Körper des Mädchens sackt in sich zusammen. Aus der klaffenden Wunde am Hals, dort, wo das Tranchiermesser ihn durchtrennt hat, sprudelt üppiges Blut auf den reinen Damast.

Elas Eltern verständigen die Polizei schon um zehn. Aber wie immer an Halloween ist unglaublich viel los. Ein Teenager, der mit Freundinnen unterwegs ist und sich verspätet hat keine Priorität. 

Spurlos

Am Morgen von Allerheiligen finden Spaziergänger in dem kleinen Park ein Stück schwarzen Tüll. Die kriminaltechnische Analyse wird Elas DNA daran nachweisen. Das ist alles, was von dem Mädchen jemals gefunden wird.

Keiner hat Ela gesehen. Ihre Spur verliert sich am Anfang des Parks. Das Eckhaus, dessen Bewohner vielleicht etwas bemerkt haben könnten, steht seit Monaten leer. Von einem Kürbis, der ein paar Kindern zufolge in der Nacht vor Allerheiligen am Gartentor gestanden haben soll, ist ebenfalls nichts zu finden. Aber wer vertraut schon der Aussage von ein paar durch den Halloween-Trubel exaltierten Kindern? 

Adventskalender Minikrimi am 5. Dezember


Keine Wahl

Sie ist wach, lange, bevor der Wecker klingelt. Früher hat sie sich nach dem ersten „Kikerikiiii“ nochmal tief in die Daunen geschmiegt, und wenn Mami um sieben mit einer Tasse Kakao ins Zimmer kam und gut gelaunt rief „Sofia, aufstehen, der Morgen lacht!“, lugte nur die Nasenspitze aus der Decke hervor. Früher. Da hatte Sofia nie verstanden, wie Mami es schaffte, immer gut drauf zu sein. Sogar, wenn es draußen noch dunkel war, oder wenn sie einen tierisch ekligen Tag vor sich hatte, mit lauter unangenehmen Meetings und so. Jetzt kommt Mami morgens nie in ihr Zimmer, sondern liegt in unruhigem Medikamentenschlaf bis mittags im Bett.

Sofia schält sich aus der Decke – die Daunen sind in der Waschmaschine verklebt und hängen in Klumpen im Bettbezug. „Aufstehen, Simon, der Morgen lacht“, flüstert sie ihrem kleinen Bruder ins Ohr. Eigentlich nervt es sie, dass er in ihrem Bett schläft, aber jetzt im Winter wärmen sie sich so wenigstens gegenseitig. Und Simon braucht alle Wärme, die er kriegen kann, denkt Sofia. Zärtlich streicht sie ihm das schlaffeuchte Haar aus der Stirn. Blonde Locken, wie Papa. Papa. Sofia schluckt etwas herunter, was wie Tränen schmeckt. Aber sowas kann sie sich nicht leisten. Nicht mehr. Sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

Sofia ist erst dreizehn, doch seit ihr Vater vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist – „hit and run“ – heißt das in Amerika, ist sie es, die den Familienalltag am Laufen hält. So gut sie es eben kann. Die Mutter ist chronisch depressiv, zu Zeiten sogar suizidal. Wenn du kein Einkommen hast und keines verdienen kannst, geht der soziale Abstieg ganz schnell. Vaters Geld war in einem halben Jahr verbraucht. Haus und Möbel wurden versteigert, dann der Umzug in die Sozialwohnung.

Sofia hatte kein Problem damit, in eine neue Schule zu gehen, eine Gesamtschule, was anderes gibt es nicht in der Nähe. Die Freundschaften aus dem Mädchengymnasium hatte sie da bereits hinter sich gelassen. Du wirst uninteressant, wenn du nichts mitmachen kannst. Kein Shopping, keine Clubs, und nach den Ferien hast du keine Urlaubsabenteuer zu berichten, weder von den Seychellen noch vom Sprachkurs in England. Nein. Ganz so stimmte das nicht. Es gab da schon ein paar Mädchen, die nicht so waren. Die gerne weiter mit ihr befreundet gewesen wären, weil sie sich mochten. Aber Sofia hatte einen Schlussstrich unter ihr altes Leben gezogen. Und alle und alles hinter sich gelassen. Außerdem hat sie gar keine Zeit mehr für Freundschaften.

Schließlich muss sie sich nicht nur um Simon kümmern, sondern auch um ihre Mutter. „Mami, Simon braucht neue Schuhe“, hat sie erst gestern gesagt und versucht, die dicke Mauer aus Tabletten und Gleichgültigkeit zu durchdringen. „Mir geht’s grade nicht so gut, frag Papa“, war die Antwort.

Frag Papa. Was würde er machen? Er würde sich kümmern, eine Lösung finden. In diesem Fall wohl vor allem: Geld verdienen. Sofia ist dreizehn und geht noch zur Schule! Aber sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

In den letzten Wochen hat sie angefangen, in der Pause mit ein paar Typen aus ihrer Klasse rumzuhängen. Eigentlich, nachdem Mandy, sowas wie die Anführerin der Mädchen, versucht hatte, sie fertig zu machen. „Du glaubst wohl, du bist was besseres?“ „Du wohnst in genau so ner dreckigen Sozialwohnung wie wir, ich hab dich heimgehen sehen, du Lauch. Du Bitch, du bist so wack….“ Sofia hatte zwar nicht den Wortlaut verstanden, aber wohl die Absicht. Früher, da hatte Papa sie zum Muay Thai-Training gefahren („Ich fände Ballett ja besser, aber vielleicht musst du dich mal verteidigen können“). Genau. danke Papa. Mandy war zu Boden gegangen. Und Sofia hatte eine neue Clique.

Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber die Bewunderung der Jungs tat ihr gut. Sie lernte, Zigaretten zu drehen und Shisha zu rauchen. Eines Tages schenkte ihr Ben einen Minirock aus Kunstleder und sagte: „Den hab ich für Dich gefunden. Mach dich schön, wir gehen zu ner Party, die is lit af.“ Sofia verstand, dass sie nicht nein sagen konnte. Schweren Herzens löste sie ein mini Stück von Mamis Schlaftabletten in Simons Saft auf, legte ihn ins Bett und ging. Ben hatte nicht zu viel versprochen. Die Party war „echt cool“, wie Sofia sich ausdrückte. Es gab Bier und Wodka und Red Bull und Tabletten. Alles umsonst. Zum ersten Mal nach Papas Tod fühlte sie sich frei. Und gut.

Das ist jetzt vier Wochen her. Inzwischen hat sie kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie Simon die aufgelösten Schlaftabletten gibt. Der Kindergärtnerin hat sie gesagt, er hätte eine verschleppte Erkältung und sei deshalb tagsüber so teilnahmslos. Die Schule bringt sie irgendwie hinter sich. Sie ist immer noch besser als der Rest der Klasse, auch, wenn sie nicht lernt und keine Hausaufgaben macht. Der Lehrer lässt sie in Ruhe, denn sie hebt den Durchschnitt. Mandy macht einen Bogen um sie. Sie gilt als Bens Girlfriend. Er kauft ihr Klamotten, was zu essen, genug für sie und Mami und Simon, am Abend die Drinks und die Tabletten. Mehr als knutschen war bislang nicht drin, aber Sofia weiß, irgendwann wird sie sich revanchieren müssen.

Irgendwann war vor drei Tagen. „Süße“, hatte Ben ihr ins Ohr geflüstert und dabei immer wieder daran genagt. „Süße, meine kleine Bitch. Es wird Zeit, dass du mir zeigst, wie lieb du mich hast.“ Sofia hatte genug Wodka und Tabletten intus, um ihm als Antwort die Zunge ganz tief in den Hals zu stecken und sich rhythmisch an seinem Köper zu reiben. Aber das war es gar nicht, was Ben wollte. Er schob sie ein Stück von sich weg auf der abgewetzten, fleckigen Kunstledercouch und sagte, plötzlich ganz Businessmann: „Siehst du die drei Betties da drüben? Die sind echt Boyfriend-Material. Aber sie müssen noch auftauen. Mach mal.“ Und er legte ihr ein paar von den blauen Pillen in die Hand. „Nein, mach ich nicht“, hatte Sofia gesagt. Denn sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen. Sie zieht andere nicht mit runter.

Erstaunlicherweise hatte Ben sie nicht gezwungen. Aber am nächsten Tag auf dem Schulhof hat er sie am Arm gepackt und zum Zaun gezogen. Da standen zwei Männer, schwarz gekleidet, solche, die ihr Muay Thai-Trainer immer mit ganz harten Augen weggeschickt hatte. „Süße, wenn du keinen Stoff verticken willst, dann musst du was anderes machen. Ich hab wegen dir so viel Schulden bei den beiden hier gemacht, da musst du jetzt bezahlen helfen….“, sagte Ben.

Sofia hatte sich losgerissen und war in das Schulgebäude gerannt. Hatte ihre Tasche geholt, dem Lehrer gesagt, ihr sei schlecht, und war nach Hause gegangen, immer mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Zuhause hatte Mami Spaghetti gekocht, und sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, es war fast wie früher. „Mami, ich hab da ein Problem“, hatte Sofia begonnen, ihr Herz auszuschütten. Aber ihre Mutter hatte schon wieder versonnen in die Pasta geschaut, nichts gegessen und nur abwesend gemurmelt: „Schatz, frag Papa.“

Als sie Simon vom Kindergarten abholte, fuhr ein schwarzes Auto hinter ihnen her, ganz langsam. In der Wohnung schloss Sofia die Haustür ab, zog die Vorhänge zu und legte sich mit Simon ins Bett.

Gestern Morgen hatte sie in der Schule angerufen und gesagt, „meine Tochter ist krank.“ Das gleiche hatte sie mit dem Kindergarten gemacht. Sie rührte sich nicht aus der Wohnung. Simon protestierte, ihm war langweilig, und den blöden Saft wollte er plötzlich auch nicht mehr trinken. „Der schmeckt so bitter, und dann ist mein Kopf immer soooo schwer.“ Sofia schaute den Schatten zu, wie sie sich über die Wände legten, und den Ameisen, die Simons verschmähtes Marmeladenbrot in unzählige Transportbrocken zerlegten und durch die Küche schleppten, wer weiß wohin.

Gestern Abend, Sofia war grade im Bad, hatte es an der Tür geklingelt, und Simon war schneller gewesen. Als Sofia dazukam, stand Ben da. Nur Ben. Er kam nicht rein, gab ihr ein kleines Päckchen und sagte: morgen holen sie dich ab. Tu, was sie dir sagen. Du hast deinen Bruder doch lieb. „Simon?“ fragte Sofia. „Simon!“ rief sie. Aber Simon war verschwunden.

Später, als sie auf dem Bett saß und ungläubig auf die Waffe starrte, die sie ausgepackt hatte, klingelte ihr Handy. „Hast du es dir überlegt? ja? Dann komm runter. Dein Bruder wartet im Auto. Wenn wir dir erklärt haben, was du zu tun hast, kannst du ihn mit rauf nehmen. Aber wenn du es dir morgen anders überlegst, ist er für immer weg. Wir wissen, wo er spielt….Klar?“

Jetzt bringt Sofia Simon zum Kindergarten. Wie jeden Morgen. Gibt ihm einen Kuss. Wie jeden Morgen. Um die Ecke wartet der schwarze Wagen. Sie steigt ein. Die Männer fahren mit ihr zu einer Garage, dort muss sie die Waffe abfeuern. Zur Übung. Es ist gar nicht schwer. Sie wird aus nächster Nähe schießen und braucht nicht wirklich zu zielen. Sie ist ein großes Mädchen.

Das Auto hält vor einem riesigen Gebäude, Stahl und Glas. Sie steigt aus. In der einen Hand hält sie ein Foto, in der anderen, in einem Beutel versteckt, die entsicherte Waffe. Sie wartet, und als der Mann auf dem Foto die Treppe hinunter kommt, steht sie vor ihm, sagt „Hallo“. Er lächelt sie freundlich an: „Hallo, Kleine!“ Und Sofia drückt ab.

„Nur wenige Minuten nach seinem Freispruch ist „Ali G. das Oberhaupt eines von zwei konkurrierenden Drogenclans, auf den Stufen des Gerichtsgebäudes erschossen worden. Tatverdächtig ist ein Kind, zwölf bis dreizehn Jahre alt. Die Polizei sucht nach dem Mädchen, das allerdings noch nicht strafmündig ist.“

Adventskalender MiniKrimi vom 9. Dezember 2018


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Ihr Liebhaber gepflegter Adventskriminalistik: heute mal was Preisgekröntes. Mit dieser explosiven Adventstragödie habe ich mal den Krimipreis Goldbroiler gewonnen. Viel „Spaß“ beim Lesen….

Der Tod eines Traums. Adventstragödie in vier Akten.

1.

„Dicke rote Kerzen, Tannenzapfenduft..“ „Marie, leise, Papa schläft. War so viel los in der Schule!“. Sie legte sich aufs Bett, stöpselte das Lied ins Ohr. Die Wohnung duftete nach Zimt und Plätzchen. Marie liebte den Advent, die gemütliche Heimlichzeit.

Sieht aus wie eine dicke rote Kerze. Passt perfekt in den Adventskranz.  Keiner bemerkt, wer sich vor dem Blumenladen eine Zigarette anzündet und den Docht dazu.  Jetzt schnell weg und weiter, ein sichtlich unsichtbarer Schatten in der Menge wogender Mäntel. Der Kirchturm wird zum Logenplatz, die Straße zur Arena. Ein Knall, klirrendes Glas von zerberstenden Scheiben. Schreie. Schreie und Blut.

2.

„…Man begegnet hin und wieder schon dem Nikolaus“ Er hatte immer was Süßes im Sack. Anziehend und unheimlich zugleich. Ein geheimnisvoller Fremder. Bis er ihr zu nahe kam.

Bunt und laut und weihnachtsdurstig wimmelt die Samstagsmenge in der jubelbeschallten Einkaufsmeile. Alle freuen sich und viele nehmen gern den Glühwein, den ihnen der dick vermummte Nikolaus freundlich lächelnd anbietet. Sie kommen nicht weit. Rattengift wirkt schnell.

3.

„Lieb verpackte Päckchen, überall versteckt“. Am letzten Schultag wurde gewichtelt. Marie hatte Jo ein Schokoherz gekauft. Und er? Als sie ihr Päckchen auspackte, grölte die ganze Klasse. Ein kaputter Vibrator für „Lehrers Liebling“!

Am letzten Schultag strömen alle in die Aula. Neunhundert Schüler bestaunen die Riesentanne mit den Paketen für arme Kinder darunter. Halleluja singt der Chor der Ehemaligen. Ritual und Tradition. Diesmal mit Feuerwerk. Ein Handy klingelt, und schon wirbeln Sänger, Äste, Kerzen durch die Luft. Wie vorgezogenes Silvester.

4.

„Alte Lieder, Dunkelheit, Bald ist es so weit!“ Es war so einfach. Internet sei Dank. Erst der Flirt, dann die Kalaschnikow. Ein volles Magazin. Drei Treppen und ein Flur. „Schöne Bescherung, Papa, jetzt ist Schluss mit Weihnachtsmann“, und sie entsichert die Waffe.

Und heute mal ein Nano-Fast-Liebesroman: Panik


Dienstagmorgen in der vollen U-Bahn: Zwei junge Leute stehen nebeneinander im Gedränge.  In einer Kurve rempelt sie ihn aus Versehen an. Ihre Blicke treffen sich. „Nettes Mädel“, denkt er und lächelt. Sie schaut ihm in die Augen. Ihre Lippen verziehen sich zu einem breiten Strich. Dann guckt sie weg. „Schade“, denkt er. „Ich gefalle ihr nicht. Sonst hätte sie zurückgelächelt“. Beim nächsten Halt steigt sie aus, dreht sich am Bahnsteig nochmal um und sieht ihn an, ohne ein Lachen. „Mist“, denkt sie auf der Rolltreppe, „immer das gleiche. So ein süßer Typ. Bestimmt denkt er, ich fand ihn doof. Scheißangst! Morgen geh ich zum Zahnarzt. Zum ersten Mal in meinem Leben…. Oder übermorgen….oder…“