MiniKrimi Adventskalender am 15. Dezember


Mords-Malefiz (Auszug)

von Monika Nebel

Der Mann wird unruhig, wie soll er reagieren? Werden sie ihm abkaufen, dass er von nichts weiß?

Um ihn herum wird wild getanzt und gesungen. Heute haben die INNfernalischen einen beinahe lässigen Abend mit einem einzigen Auftritt vor sich. Ab morgen bis zum Ende der fünften Jahreszeit am Faschingsdienstag um 24 Uhr sieht es anders aus. Ein Termin jagt den nächsten, die 16 Tänzer und Tänzerinnen sind mit dem Bus quer durch die Dörfer rund um Wasserburg und Rosenheim unterwegs, begleitet von ihrem Team. Der Höhepunkt des Gardeauftritts ist der Tanz des Prinzenpaars Hubert II. und Luise I.

Doch nicht heute! In einer Stunde, so gegen 21 Uhr, werden die Trainerinnen, die Gardemajorin, die Hofmarschallinnen, der Präsident und vor allem der Prinz nervös werden. Und der Mann ahnt, was spätestens am nächsten Tag passieren wird: Ein Höllenfeuer wird bei den INNfernalischen ausbrechen. Entweder verschlingt es ihn selbst oder verbrennt zumindest seine Seele bis zur Unkenntlichkeit.

***

Am Sonntagmorgen gehen Maria und Johann Selbinger aus Griesstätt, dick eingemummelt in winterliche Kleidung, im nahe gelegenen Tal von Altenhohenau spazieren. Der Border Collie des Paars rast begeistert bellend den Inndamm entlang. Auf dem seit Wochen gefrorenen Boden liegt nun eine zarte Schicht Schnee. Der ist in der Nacht gefallen, in feinen Flocken nur, aber über ein paar Stunden. Ihr Auto parkt im Ort, die beiden haben den Weg oberhalb der Felder gewählt.

Das Paar hat Zeit, die Sonne scheint so schön, deshalb wandern sie bis zum nördlichsten Ende der Halbinsel, wo sich der Lambach dem kraftvoll dahinfließenden Inn anschließt. Dort erwartet sie ein wunderbares Panorama, das sie auf der Bank sitzend genießen: eisig wirkendes Wasser, glitzerndes Weiß an den Ästen, eine stille, friedliche Landschaft. Es ist nicht mehr weit bis Wasserburg, nur wenige Kilometer.

Zurück wählen sie einen anderen Weg. Bevor der Mann und die Frau den Wald betreten, leinen sie den Hund an, wie es im Naturschutzgebiet gefordert ist. Die Sonne blitzt durch die nackten Äste des Laubwaldes, ein Bach plätschert ein Stück parallel zum Weg. So kalt war es nicht, dass er ganz hätte zufrieren können. Sie folgen dem Weg und sehen bald darauf den Parkplatz für die Wanderer, auf dem aktuell nur ein Auto steht: ein eleganter blauer Mittelklassewagen, dessen Dach ebenfalls eine weiße Haube trägt.

Mit einem Mal bleibt ihr Hund stehen, sein Kopf in starr erhobener Haltung, er atmet heftiger, ein Zittern läuft über sein Fell. Sein Frauchen stutzt. So kennt sie das fröhliche Tier nicht.

»Ja, Cora, was ist denn los? Komm, geh weiter, gleich sind wir in der Sonne auf den Feldern, dann kannst du wieder von der Leine und sausen.«

Doch der Hund will nicht aus dem Wald, er wendet sich nach rechts und zieht Maria hinter sich her.

»Cora, jetzt bleib stehen!«, schimpft sie und stemmt sich mit den Füßen gegen die Zugrichtung in den Boden. Als sie verwundert ihren ungewohnt unfolgsamen Hund ansieht, bemerkt sie wenige Meter weiter einen farbigen Fleck zwischen den Bäumen. Ihr wird kalt, die Sonne scheint schwächer zu werden, die Welt etwas dunkler.

»Johann!«, sagt sie mit solch angespannter Stimme, dass ihr Mann neben sie tritt.

Gemeinsam starren sie in den Wald. Dort unter zierlichen jungen Ästen im unbelaubten Winterkleid, beinahe verborgen hinter einem kleinen Hügel liegt eine Frau. Ihr rot-schwarzes Kleid hebt sich vom Weiß der Umgebung deutlich ab, obwohl der Körper leicht von Schnee bedeckt ist. Die Spaziergänger werfen einander einen Blick zu, der verrät, wie die Situation sie verunsichert.

»Hallo?«, ruft Johann hinüber, erhält aber wie befürchtet keine Reaktion.

»Wer geht denn im Winter mit einem ärmellosen Kleid spazieren?«, fragt Maria ihren Mann irritiert, um sich selbst von dem Offensichtlichen abzulenken. Der bindet den neugierigen Hund an einem dicken Ast fest. Sie nähern sich mit einem unguten Gefühl. Seite an Seite, keiner mag zurückbleiben oder vorausgehen. So etwas sieht man sonst nur im Fernsehen oder liest darüber in Büchern. Und Maria mag keine Krimis oder Thriller.

Die Reglose hat einen Arm über ihren Augen liegen, als müsse sie sich vor der Sonne schützen, der andere ruht neben ihr im Schnee. Die Finger sind leicht nach innen gebogen. Um sie herum glitzert alles, bemerken die beiden Beobachter. Kommt es von den eisigen Kristallen auf ihrem schlanken Körper und auf dem Boden? Dasselbe Glitzern findet sich in ihrem brünetten Haar wieder, auf dem Kleid, sogar auf den roten Pumps, von denen sie nur noch einen trägt. Der andere liegt, wie willentlich abgestreift, neben dem schmalen Fuß. Sie scheint aus einer anderen Welt direkt in den bayerischen Schnee gefallen zu sein.

»Hallo, hören Sie uns?«, fragt Johann und kniet bei der Frau nieder. Er greift nach ihrer Hand und sieht seine Begleiterin unbehaglich an.

»Eiskalt!« Und einige Sekunden später fügt er ein wenig atemlos hinzu: »Kein Puls!«

Maria hat ihr Handy bereits gezückt und verständigt mühsam mit erstarrten Fingern den Notruf über den Fund der Leiche. Sie gibt ihrem Mann die Anweisung weiter, die sie von ihrem Telefonpartner erhalten hat, ihre Stimme bebt: »Wir sollen uns nicht bewegen, um keine Spuren zu zerstören.«

Sie reibt die Hände aneinander, wagt einen weiteren Blick auf die Frau im Schnee und schüttelt ungläubig den Kopf:

»Ist das ein Diadem, das sie trägt?«

Beide verharren wie angewiesen neben der Toten. Sie rühren sich nicht, bis die Einsatzkräfte eintreffen, obwohl sie frieren und der Hund winselt. Zwei Krankenwagen, ein Polizeieinsatzfahrzeug nähern sich, die Wartenden hören sie schon, als die Wagen die Straße von Wasserburg her den Laiminger Berg hinunterfahren. Nun biegen sie ab. Die Sirenen werden schwächer, weil sie hinter den Bauernhäusern verschwinden, dann wieder lauter, als sie den Weg zum Wanderparkplatz einschlagen. Glücklicherweise ist die Schneedecke dünn, sonst ist hier im Winter oft kein Durchkommen.

Zunächst steigen die Polizeibeamten und nur ein Sanitäter aus. Sie begrüßen Johann und Maria und treten vorsichtig zu der Toten.

Der eine Polizeibeamte pfeift durch die Zähne. »Die abgängige Prinzessin!«

Auf die fragenden Blicke der anderen hin erklärt er: »Sie sollte gestern auf einem Ball auftreten, die INNfernalischen und ihr Mann haben sie als vermisst gemeldet.«

»Und natürlich der Prinz«, kommt es vom Kollegen ein wenig spöttisch. Der Polizist versteht den Tonfall. Sie hatten neulich mit einer Streitschlichtung zwischen zwei hoheitlichen Konkurrentinnen um das schönere Diadem zu tun. Er seufzt.

»Ob der Prinz sie vermisst, weiß ich nicht. Im Fasching geht es manchmal höllisch zu. Auch unterm jeweiligen Hochadel der Saison gibt es sicher die ein oder andere Intrige.«

Mehr zu Monika Nebel gibt es hier: monika-nebl.defacebook.com/MonikaNeblAutorininstagram.com/monikanebl.autorin

Mords-Malefiz ist vor Weihnachten nur bei den Wasserburger Buchhandlungen und im eigenen Shop (https://www.eyedoo.biz/shop/Regionalkrimi) verfügbar.

Adventskalender MiniKrimi am 22. Dezember


So langsam wird es ernst. Der Countdown für Weihnachten geht in die letzte Runde. Und wie könnten wir uns besser einstimmen als mit dem heutigen MiniKrimi meiner wunderbaren Autoren- Kollegin Birgit Schiche? Viel Spaß beim Lesen – und wir freuen uns auf Eure Kommentare!

Criminal Santa

Es war eine der längsten Nächte des Jahres, kurz vor Heiligabend. Sturmböen peitschten ihm den Schneeregen ins Gesicht. Er lief noch schneller durch die kleinen Gassen nahe der Innenstadt. Hinter sich hörte er schnelle Schritte und laute Rufe. Sie waren ihm auf den Fersen. Er schlug Haken wie ein Kaninchen und kroch schließlich unter einen lockeren Stapel mit Sperrmüll, wohl übriggeblieben von einem Umzug. Seine Lunge brannte, sein Herz pumpte. Hoffentlich bemerkten sie ihn nicht.

Janik war es gewohnt, nicht bemerkt zu werden. Seine traurige Kindheit hatte überwiegend in Kinderheimen und betreuten Jugendwohnungen stattgefunden. In der Schule hatte er auch nicht mit guten Noten geglänzt. Dabei war er schlau und ein ausgezeichneter Beobachter. Er hatte gelernt, sich auf dem Weg des geringsten Widerstandes durchs Leben zu mogeln. Leider hatte ihn dieser Weg in die Hände von Bruno geführt. Bruno war mit Drogen wohlhabend und mächtig geworden und glaubte, in Janik einen perfekten Drogenkurier gefunden zu haben – der inzwischen 25-Jährige verstand es schließlich, nicht aufzufallen.

Zuerst lockte Janik die Aussicht auf leicht verdientes Geld, doch dann war der Job keineswegs so bequem, wie er es bevorzugte. Polizei, konkurierende Drogenhändler, durchgeknallte Junkies – er wollte mit dieser Branche nichts mehr zu tun haben. Sein Ausstieg war vorbereitet. In seinem Rucksack befanden sich drei Kilo Koks. Ein letzter Deal, und er würde mit dem Geld abtauchen, das ihm einen Neustart ermöglichen sollte. Seine Art von „weiße Weihnacht“, hohoho. Doch er konnte nicht ewig hier unter dem Sperrmüll hocken. Er musste unsichtbar werden, das war seine Superkraft.

Sein Blick fiel auf einen braunen Kartoffelsack, aus dem ein rotes Stoffknäuel mit weißem Kunstpelz herausschaute. Ein Weihnachtsmannkostüm – perfekt!

Durch den Personaleingang des größten Kaufhauses der Stadt stapfte ein Weihnachtsmann mit einem großen, braunen Sack auf dem Rücken. „Ho, ho, ho!“ rief er fröhlich, der Pförtner lachte und winkte ihn durch. Der Weihnachtsmann stand höchstens unter dem Verdacht, Geschenke zu bringen.

Schon kurze Zeit später stand der Weihnachtsmann in der Spielzeugabteilung, umringt von begeisterten Kindern und deren Eltern. Drogendealer gab es hier keine.

Janik gab einen großartigen Weihnachtsmann ab. Das gefundene Kostüm passte ganz passabel, als dicken Bauch hatte er sich einfach seinen Rucksack mit dem Kokspäckchen unter das Kostüm gestopft. Vor allem aber verstand er es, gute und weihnachtliche Stimmung zu verbreiten. Er ließ die Kinder kleine Gedichte aufsagen und alle Umstehenden gemeinsam Weihnachtslieder singen – damit kannte er sich Dank seiner Heimkarriere gut aus. Und er verteilte Geschenke, kleine Spiele, Puppen, Stofftiere – alles, was es hier zu kaufen gab. Janik war in Hochform und hatte einen Heidenspaß. Seine gute Stimmung wirkte ansteckend und motivierte die anderen Menschen, diese Dinge auch zu kaufen – besser als jede Werbeaktion. Inzwischen war die ganze Abteilung von Menschen überlaufen. Die Aktion sprach sich herum.

„So einen tollen Weihnachtsmann hatten wir hier noch nie“, tuschelten die Verkäuferinnen begeistert und kamen mit dem Kassieren kaum hinterher. Der Kaufhausdetektiv war allerdings weniger begeistert. Er wusste nichts von einer Weihnachtsmannaktion und bemerkte schnell, dass der nicht bestellte Weihnachtsmann seine Geschenke direkt aus den Regalen des Kaufhauses nahm, natürlich ohne zu bezahlen. Langsam rückte er durch die Menschenmassen näher an Janik heran.

Dieser bemerkte aus dem Augenwinkel den starrenden Blick des Kaufhausdetektivs und einen weiteren Mann in der Menge – einen von Brunos Leuten, der natürlich nicht nach dem auffälligsten, sondern nach dem unauffälligsten Mann suchte. Der Kaufhausdetektiv hatte offenbar auch schon die Polizei alarmiert, denn zwei uniformierte Beamte kamen ebenfalls näher. Es war Zeit für den Rückzug. Er bewegte sich unauffällig Richtung Fahrstuhl, umringt von einer Menschentraube. Dabei stieß er wie zufällig mit dem Drogendealer zusammen und schob dem derart Überrumpelten von der Menschenmenge unbemerkt den Rucksack mit dem Koks zu.

Das Lichtsignal am Fahrstuhl zeigte an, dass dieser gleich hier halten würde. Sobald der Fahrstuhl sich öffnete, machte Janik die Polizei lautstark auf den Drogendealer aufmerksam und sprang selbst in den Fahrstuhl, ohne die alte Dame darin erst aussteigen zu lassen. Er fuhr mit ihr ins Erdgeschoss, schnappte die vor Schreck erstarrte Seniorin, als wollte er sie beim Gehen unterstützen, und verließ mit ihr unbehelligt das Kaufhaus. Im Trubel der Last-Minute-Weihnachtseinkäufer tauchte er unter. Der Kaufhausdetektiv fand später nur noch die verwirrte, aber wohlbehaltene alte Dame.

Das Weihnachtsmannkostüm schenkte Janik einem Obdachlosen, den es wärmte und der so bekleidet die Passanten deutlich stärker zum Spenden animieren konnte. Er selbst wurde unsichtbar und verließ die Stadt. Das Drogengeld musste er nun leider abschreiben. Aber dieser Tag war definitiv das beste Weihnachtserlebnis, das er je gehabt hatte: Die leuchtenden Kinderaugen und all die fröhlichen Menschen, die sich von ihm zum Kauf animieren ließen. Es hatte richtig Spaß gebracht, so im Mittelpunkt zu stehen und die Leute zu lenken! Janik hatte seine neue Superkraft gefunden.

*Dieser Mini Krimi wurde zwar inspiriert von der Geschichte des „King Mob Santa Claus“ 1968 bei Selfridges (London), ist aber ansonsten frei erfunden.
https://libcom.org/article/king-mob-santa-claus-and-selfridges-christmas-1968

Adventskalender MiniKrimi am 4. Dezember


So, heute kommt endlich die versprochene Geschichte mit dem Schnee. Obwohl sie ganz anders geworden ist, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber Ihr kennt das: die Figuren verselbständigen sich, die FInger schreiben von alleine, und das Resultat ist für einen selbst unerwartet. Viel Spaß beim Lesen.

Pech mit den Männern

Rina hat Pech mit den Männern. Und die in langen Therapiestunden herausgearbeitete Erkenntnis, dass die toxische Beziehung ihrer Eltern der frühkindliche Auslöser für ihre Probleme mit dem anderen Geschlecht ist, hift ihr leider auch nicht weiter.

Letzte Woche war wieder so eine typische Situation. Nach 20 völlig indiskutablen Angeboten, die ihr das Jobcenter zugeschickt hatte, fand sie diese Stelle richtig interessant: Mitarbeiterin in der Notrufzentrale der Münchner Polizei. Die Stellenbeschreibung hörte sich spannend an, die Arbeit war Teilzeit, und da sie keine familiären Bindungen hatte, wäre der Schichtbetrieb für sie auch kein Problem.

Rina bereitete sich sorgfältig auf das Treffen mit dem Sachgebietsleiter vor. Elegant, aber unaufdringlich. Blaues Kostüm – aber kein Uniformton, natürlich, dezente Bluse, eine Reihe Perlen um den Hals. Halbhohe Pumps. Eine Herausforderung, die sie sicher unterm Schreibtisch würde ausziehen können…..

Im Wartebereich saß ein weiterer Bewerber und schaute missmutig von seinem Handy auf, als Rina freundlich grüßte. Nach einer kurzen Musterung ihres Konkurrenten machte sie es sich auf dem freien Plastikstuhl bequem. Jeans, Karohemd und Sweatshirt. Turnschuhe. Viele Muskeln, ungepflegter Bart. Nein, den würde sie mit links ausstechen.

Aber als er nach einer erstaunlich langen Zeit das Büro des Sachgebietsleiters verließ, verabschiedete dieser den Mann mit einem letzten Lachen. Sie hörte den Halbsatz: „…dafür bringen Sie ja beste Voraussetzungen mit. Wir melden uns auf alle Fälle bei Ihnen.“

Mist. Rina hatte sich schon ausgemalt, wie sie jeden Tag genau diesen Weg zur Arbeit nehmen würde. Da blieb ihr nur eines übrig: sie musste den Gegner ausstechen. Also log sie, was das Zeug hielt. Langjährige Erfahrung in verschiedenen Notrufzentralen in England Frankreich und Italien. Ja, die Sprachen waren für sie kein Problem. Vor allem konnte sie auch die Basics auf Türkisch. Das machte Eindruck.

Als Rina eine Woche später mit dem unterschriebenen Vertrag in der Hand aus dem Gebäude ging, kam ihr ihr Konkurrent entgegen. „Schlampe“, zischte er im Vorbeigehen, und Speichelfäden flogen ihm dabei aus dem Mund. Rina reckte den Kopf in die andere Richtung und stolzierte mit aufrechtem Gang und Sinn an ihm vorbei. „Nur die harten komm‘ in‘ Garten“, flötete sie ihm nach. Warum musste er so aggressiv sein? Sicher hatte sie wieder sowas opfermäßiges ausgestrahlt. Typisch, halt. Pech!

Das war vor einer Woche Inzwischen hat sich viel getan. Zum Glück ist sie bisher noch nicht in die peinliche Situation geraten, ihre nicht vorhandenen Türkischkenntnisse unter Beweis zu stellen. Alle Anrufer*innen haben mehr oder weniger verständlich gesprochen, bis auf die eingefleischtesten Bayern, aber davon gibt es in München ja gottseidank nicht mehr so viele.

Heute Früh hatte Rina Mühe, rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Es muss die ganze Nacht durchgeschneit haben, denn als sie die Haustür öffnete, leckte der Neuschnee schon an ihrer unteren Treppenstufe. Rias Haus ist alt und eigentlich viel zu groß für sie. Sie hat es von ihrer Mutter geerbt, und diese von ihrem Vater. Rina hängt daran, ohne das Geld zu haben, die dringend notwendigen Reparaturen machen zu lassen. „Du musst dir einen Mann finden, der handwerklich geschickt ist“, hat ihre Mutter ihr immer wieder eingeschärft. Wahrscheinlich aus leidvoller Erfahrung mit Rinas Vater, der nicht einmal einen Nagel in die Wand schlagen konnte, geschweige denn eine Dachrinne reparieren oder die Fassade streichen. Also bröckelt Rinas Außenwelt genauso vor sich hin wie ihr Innenleben.

„Wenn das so weiterschneit, komme ich morgen nicht mehr raus“, denkt sie beim Blick aus dem Fenster ihres Büros und verbindet geistesabwesend eine hektische Anruferin, deren Zuchtteckeldame Mary Jane beim Gassigang verschwunden ist, mit dem Drogendezernat. „ich brauche jemanden, der den Schnee wegschippt.“

„Hallo, ist das die Notrufzentrale?“ „Ja, wie kann ich Ihnen helfen?“ Rina sind die routinemäßgen Antworten immer noch nicht geläufig. Sie denkt einfach zuviel nach, statt mechanisch zu plappern.

„Ach, ich….“ „Ja?“ „Ich hatte vor ein paar Tagen angerufen, weil die alte Dame gegenüber den Fernseher die ganze Nacht an hatte und nicht reagiert hat.“Ja. Und?“ „Also das war falscher Alarm, tut mir leid. Sie war einfach nur eingeschlafen, hatte die Hörgeräte schon rausgenommen und hat einfach nichts mitgekriegt.“ „Ok.“ Pause. „Und jetzt?“ In der Schulung haben sie ihr gesagt, wie sie mit solchen Anrufen umgehen soll. Dass es Leute gibt, die sonst niemanden zum Reden haben und deshalb eben die Nummer der Notrufzentrale wählen. Immer wieder. Weil man ihnen da zuhört. Freundlich, aber bestimmt abweisen und auflegen. Mit dem Hinweis, das es inzwischen bei jemand anderem um Leben und Tod gehen könnte.

„Also. Mir geht Ihre Stimme nicht mehr aus dem Kopf. Ich möchte sie gerne sehen.“ Darauf hat man sie in der Schulung nicht vorbereitet. Vielleicht kommt das erst im zweiten Block? „Du weißt, du hast immer Pech mit Männern. Leg auf. Jetzt gleich.“ Natürlich tut sie das nicht. Und als er nochmal nachhakt und fragt: „Was machen Sie zum Beispiel heute Abend?“, da kommt Rina eine Idee. Ein geradezu genialer Einfall. Und völlig ungefährlich noch dazu.

„Ich, also….. eigentlich mache ich sowas ja nicht. Hab das noch nie gemacht. Aber…. Sie klingen so nett. Ich bin um acht hier fertig. Wenn Sie wollen, treffen wir uns vor meinem Haus. Ich muss dann allerdings noch ziemlich viel Schnee wegschippen (ein Blick aus dem Fenster hat ihr gezeigt, dass es mindestens 20 cm sein müssten), aber danach können wir ja was trinken gehen.“

„Oh“, er klingt überrascht, und für den Bruchteil einer Sekunde fürchtet Rina, sie könnte ihn vergrault haben. Aber nein. „Sehr gerne. Vielen Dank. Und ich würde Ihnen liebend gern beim Schneeschippen helfen. Ich habe da vielleicht eine kleine Überraschung parat.“

Sie verabreden sich für halb neun. Rina hat keine Angst, einen Fremden zu treffen. Schließlich werden sie auf dem Gehweg stehen oder in der gut einsehbaren Einfahrt.

Der Weg von der U-Bahn nach Hause ist ein Abenteuer. Gefährlich und zauberhaft zugleich. Wie im Märchen, eben. Dazu passt die bevorstehende Begegnung. Alles fügt sich magisch. Der Sternenhimmel, die klirrend kalte Luft. DIe tanzenden Schneeflocken. Die Stille. Kein Mensch ist zu sehen. Bei diesem Wetter hocken alle in der warmen Stube hinter heruntergelassenen Rolläden. Ohnehin reichen die zur Seite geschobenen Schneehaufen schon fast bis an die Fensterbänke. „Denk dran, du hast immer Pech…“ flüstert es in ihrem Kopf. „Hallo, da sind Sie ja“, ruft es aus der Dunkelheit. Rina bemüht sich vergeblich, eine menschliche Gestalt zu erkennen. Sie sieht nur einen großen, unformigen Schatten, der sich von der milchweißen Winternacht abhebt. Dann wird ein Motor gestartet, und mit lautem Getöse setzt sich der Schatten in Bewegung, auf Rina zu.

Sie ist zur Salzsäule erstarrt, während er mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf sie zurollt. „Sehen Sie, das ist meine Überraschung.“ Er gräbt die Schaufel des Schneeräumers ein paar Meter vor Rina in die weiße Masse und entleert diese behend am Straßenrand. „Wow“, stöhnt Rina erleichtert, nachdem sie sich von dem Schreck erholt hat. „Das ist wirklich eine Überraschung. Wie nett von Ihnen. Ist das Ihrer?“ „Nein, der gehört der Firma, bei der ich angenfangen habe, nachdem Sie mir den tollen Telefonjob in der Notfallzentrale weggeschnappt haben. Sie Schlampe.“ Das Gesicht kann Rina immer noch nicht sehen. Aber sie erkennt den Tonfall, in dem er sie beschimpft.

Und dann fährt er auch schon los. Aber diesmal, das weiß sie, wird er nicht anhalten. „Ich habe wirklich immer Pech mit Männern“, ist ihr letzter Gedanke.

Und nun, meine Lieben, eine Frage an euch: was macht der mörderische Rächer jetzt? Entsorgt er die Leiche? Lässt er es wie einen Arbeitsunfall aussehen und fährt einfach weg? Oder?

Ich bin gespannt auf Eure Ideen. Habt eine spannende gute Nacht.

MiniKrimi Adventskalender am 20. Dezember


Heute: der MIniKrimi im Doppelpack. Denn ich kann mich nicht entscheiden. Also überlasse ich euch die Wahl. Welcher ist besser? Unter allen Antworten verlose ich ein Exemplar meines winterlichen Fünf-Seenland-Krimis „Miniataurus“, passend zur Jahreszeit.

  1. Saitenwechsel

Er kam unerwartet früher als geplant von der Dienstreise zurück und wurde von schrillen Dissonanzen empfangen. Seine Frau Gina hatte offensichtlich ein neues Hobby: sie übte Violine. „Diese Seite von dir kannte ich noch gar nicht,“ sagte er und ergriff  – bildlich gesprochen und wörtlich genommen – die einmalige Gelegenheit, eine andere Saite seines Lebens aufzuziehen, nachdem er die alte G-Saite runtergedreht, ausgefädelt, die neue Saite eingefädelt und einmal fest über das Ende ihres Halses gewickelt hatte.

2. Gestreift

„Wie süß, Schnucki, dass du mich doch noch mitgenommen hast, in deinen Skiurlaub. Eine Woche ohne dich, das hätte ich nicht ausgehalten. Ich will dich doch jede Sekunde bei mir haben.“

„Klar, mein Zuckerstückchen. Eine Woche Kitzbühel nur mit meinen Freunden – das wäre ja nicht zum Aushalten gewesen.“

Sie kichert. Und fragt: „Schnucki, hier steht Streif. Ist das auch ganz sicher eine Anfängerpiste?“

„Ganz sicher, mein Häschen. Da kommst du ohne zu schieben gar nicht voran. Deshalb habe ich deine Skier heute morgen extra nochmal gewachst. Und jetzt ab mit dir.“

„Ahhhhhhhhh!“

MiniKrimi Adventskalender am 17. Dezember


Krieg der Schneesterne

Es gibt Kriege, die dauern Jahre an. Jahrzehnte, sogar. Der längste über ein Vierteljahrhundert, ungefähr von 1618 bis 1648, der Vietnamkrieg wütete von 1955 bis 1975. Dagegen ist die Auseinandersetzung, die Christiane seit ihrem Einzug in das Eckhaus im ruhigen Villenvorort vor 10 Jahren mit der Firma führt, die von der Stadtverwaltung mit der Reinigung ihrer kleinen Seitenstraße betraut wurde, rein zeitlich gesehen eine Lappalie.

Aber emotional gleicht der Kampf einem Atomkrieg. Zumindest, was Christiane betrifft. Im Laufe des Konfliktes ist sie von einer erhöhten Reizbarkeit über nervös bedingte Unruhezustände mit Schlafstörungen in eine handfeste Depression hinübergeglitten, die sie, vor allem in den Wintermonaten, nur mit starken Psychopharmaka in den Griff bekommt.

Und das kam so: Christiane und ihre Familie konnten ihr Glück kaum fassen, als sie aus einer Schar von über 100 Beweber*innen ausgewählt wurden und in die frisch renovierte kleine Eckvilla an der putzigen Spielstraße einziehen durften. „Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, hatte die Vermieterin ihnen noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahegelegt. Woraufhin Christianes Mann nach einem langen Blick aus dem Fenster gemurmelt hatte: das ist ein Eckgrundstück. Gefühlt müssen wir mehrere hundert Meter Straßenrand ‚pflegen‘!

Christiane hatte in ihrer Begeisterung über den positiven Ausgang ihrer Überzeugungstaktik („Wir sind die idealen Mieter: fast erwachsene Kinder, eine Gärtnerin als Großmutter, keine Haustiere – und wir sind so oft unterwegs, wir haben gar keine Möglichkeit, das Haus zu ver-, ehm zu bewohnen.“ Was natürlich – fast – alles nicht wirklich stimmte. Die Kinder waren kaum aus der Pubertät heraus und gerade in dem Alter, in dem Parties in Haus und Garten, laute Rockmusik zu jeder Tages- und Nachtzeit und eine permanente Durchflutung des Hauses mit Gleichaltrigen gang und gäbe sind. Die Oma praktizierte Ikebana und lebte 500 Kilometer weit weg. Und auch wenn Asta, Rex, Kugel und Mäuschen von Christiane wie Menschen behandelt wurden, waren sie für Außenstehende Dobermann, Afghane, Siam und Kartäuser) nur beiläufig geantwortet: „Naja, das müssen wir ja nicht allein machen, dafür gibt es ja die Straßenreinigung.“

Beim süffisanten Lächeln der Vermieterin hätte sie eigentlich Verdacht schöpfen müssen. Tat Christiane aber nicht. Denn es war Sommer. Sommer in der Stadt. Die Straße war und blieb sauber, und das Thema Straßenreinigung geriet in Vergessenheit. Bis im September die ersten Blätter zu fallen begannen. „Hallo Frau Müller, ich bin vorhin zufällig bei Ihnen vorbeigefahren. Also, da liegen immens viele Blätter auf der Straße. Die müssen Sie entsorgen. Das hatten wir doch besprochen! Und außerdem – kann es sein, dass ich einen Hund bellen gehört habe? Und ich hätte beinahe eine Katze überfahren, die dann auf Ihrem Grundstück verschwunden ist….“ Die Vermieterin klingt gereizt.

„Alles gut, Frau Huber. Da müssen sich mich wohl in dem Moment verpasst haben, als ich im Baumarkt einen Laubbläser geholt habe. Hundegebell? Ich habe noch nie was gehört. Tja, die Nachbarskatzen fühlen sich bei uns sehr wohl, offensichtlich…. Ja, tschüss dann, Frau Huber! Ach, Moment, Frau Huber?“

Aber da hatte die Vermieterin schon aufgelegt. Minuten später hörte Christiane ein Geräusch, an das sie sich dunkel aus ihrer Schwabinger Wohnung erinnerte. Eine Straßenreinigungsmaschine. Christiane rannte vor die Tür, riss das Gartentörchen auf – und sah die Maschine gerade noch um die Straßenecke verschwinden. Sie hastete hinterher. „Moment!“, rief sie. „Sie haben vergessen, unsere Straßenseite zu kehren.“ Tatsächlich war die gegenüberliegende Seite, die an einen kleinen öffentlichen Park grenzte, blankgeleckt, kein Blättlein lag mehr auf dem Asphalt. Während entlang ihres Gartenzauns ein bunter Blätterhaufen vor sich hingammelte. „Halt, warten Sie!“ Endlich hörte der Mann in der Kabine Christianes Rufen. Er kurbelte die Scheibe runter und erklärte unwirsch: „Das ist ne Spielstraße hier. Da müssen die Bewohner ihre Seite selber kehren. Nur im Winter nicht.“ Sprachs und ward nicht mehr gsehen.

Also nahm Christiane den Laubbläser in Betrieb und die Blätterhaufen in Angriff. Doch bereits nach zwei Minuten klopfte ihr die erboste Nachbarin aus Nummer 7 auf die Schulter. Christiane, ganz berauscht von der Macht der Maschine, verstand zunächst nichts. Als die Frau immer wilder gestikulerte, schaltets sie den Bläser ab. „Nicht in der Mittagszeit zwischen zwölf und drei“, brüllte die Nachbarin in die plötzliche Stille.

„Ach so, das wusste ich nicht, entschuldigte sich Christiane. „Aber am Nachmittag habe ich einen Kundentermin…..“ „Egal. Gesetz ist Gesetz“, sagte die Frau und kehrte in ihre Jägerzaunburg zurück. Um 17.30 Uhr war Christianes Termin vorbei, und sie ging, mit Laubbläser bewaffnet, wieder auf die Straße. Dort traf sie ihre Tochter Isabella, die aus der Schule zurückkam. Sie riss der Mutter wortlos das Gerät aus der Hand, schaltete es aus und dozierte erbost: „Sag mal, bist du total übergeschnappt? Weißt du nicht, dass diese Dinger GIFT für die Tiere sind? Und übrigens auch für alle Menschen unter 50, bei denen das Gehör noch funktioniert. Nimm gefälligst den Besen, Mama.“

„Na hör mal, damit dauert das ja ewig. Gut, dann machst du das eben, Madame Umweltbewusst.“ „Das könnte dir so passen. Ich muss bis morgen die Seminararbeit fertigschreiben. Ne, ne, das machst du gefällgst selbst, wenn du deinen Putzfimmel jetzt schon auf die Straße ausweiten musst.“

Um es kurz zu machen: Christiane konnte weder Mann noch Kinder von der Notwendigkeit des Straßenreinigens überzeugen. Auch das Argument „Vermieterin“ zog nicht, weil nur sie von zuhause aus arbeitete und die Anrufe von Frau Huber entgegennahm. Also kehrte und blies (wenn isabella nicht daheim war) Christiane den ganzen Herbst über im Schweiße ihres Angesichts über 50 Straßenmeter – gefühlt waren es 5000. EInmal die Woche kam das von der Stadt beauftragte Reinigungsiunternehmen, putzte die gegenüberliegende, an einen kleinen Park angrenzende Straßenseite- und blies die Blätter gegelmäßig gegen Christianes Gartenzaun. Sie beschwerte sich per Mail. Sie rief in der Stadtverwaltung an. Sie rannte auf die Straße udn stellte sich von das Gefährt. Alles umsonst. Im Gegenteil. Alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Der Sachbearbeiter in der Stadtverwaltung, die Straßenreinigungsfahrer – und sogar die Blätter, die vermehrt dann runtersegelten, wenn sie gerade ihren Straßenanteil reingefegt hatte. „Nimm dir das noch nicht so Herzen. Du wirst ja regelrecht hysterisch“, sagte ihr Mann, statt sie zu trösten oder, besser noch, zu unterstützen.

Christiane wachte jeden Mittwoch, dem Tag der Straßenreinigung, mit Bauchschmerzen auf. SIe hastete vor die Tür, fegte alle über Nacht gefallenen Blätter auf die andere Straßenseite – und erlebte mit, wie der Fahrer diese mit einem höhnischen Grinsen wieder zu ihr hinüberschob.

Egal. Christiane ertrug all dies und tröstete sich damit, dass sie im Winter wenigstens keinen Schnee schippen musste.

Im ersten Winter war das auch so. Denn die paar wenigen Flöckchen, die zwischen Dezember und März vom Himmel rieselten, waren getaut, noch bevor sie das Wort Schneeschippen auch nur angedacht hatte.

Doch dann kam der vierte Winter in der Spielstraße. Püntklich zu Weihnachten schneite es, als hätte Frau Holle das ganze dänische Bettenlager ausgeschlagen. 3 Tage und Nächte. Der Schneeräumer kam – nicht. Auf der kleinen Straße häuften sich Schneemassen. Ein Nachbar klingelte und erklärte der erstaunten Familie Müller, dass sie für das Straßenstück an ihrem Haus verantwortlich seien, wie alle hier. Nur, dass die anderen kaum 10 Meter hatten, jeweils. Während das Eckgrundstück….. „Ich wusste es!“, schimpfte Christianes Mann. „Aber nein! Im Winter räumt die Firma. Das haben die mir so versichert“, wandte Christane ein. „Ja, theoretisch schon. Aber Spielstraßen liegen in der Priorität an letzter Stelle. Erst kommen die Haupt-, dann die Nebenstraßen. Und dann wir. Das kann bei so ’nem Wetter eine Woche dauern. Und bis dahin sind wir, also SIE verantwortlich.“

Schließlich schippten alle Männer der Straße – ganz ausnahmsweise – gemeinsam, und Christianes Mann baute aus dem aufgetürmten Schnee eine Bar, an der sie dann bis in die Nacht standen und Bier tranken.

Inzwischen begann es zu tauen, und nach 7 Tagen erschien die Straßenreinigungsfirma und streute tonnenweise Split in die Pfützen.

Im darauffolgenden Herbst startete Chrtiane, gestärkt durch die Einnahme eines Nerventonikums, einen erneuten Anlauf, um sich gegen die blättrigen Übergriffe der Firma zu wehren. Inzwischen begegnete ihr der Fahrer mit blankem Hass, denn sie hatte sich „ganz oben“ über ihn beschwert und angeregt, dass die Spielstraße einer anderen Firma übergeben würde. Doch damit hatte sie in ein Wespennest gestochen. „Der Sachbearbeiter kassiert gutes Geld für den Auftrag, vom Firmenchef“, erklärte ihr eine andere Nachbarin, die offenbar über alles informiert war – woher, das gab sie nicht preis. Jedenfalls erhielt Familie Müller daraufhin mehrere Bußgeldbescheide im vierstelligen Bereich, weil angeblich ihre Bäume über das zulässige Maß in die Straße hineinragten. Nur, weil ihr Mann zufällig früher als üblich nach Hause kam, entging Christiane einer Verhaftung wegen tätlichen Angriffs auf einen städtischen Beamten, der ihr den letzten Bescheid zustellen wollte.

In den folgenden Wintern tobte der Krieg der Schneesterne immer heftiger, beide Seiten fuhren immer schärfere Geschütze auf. Der Reinigungsdienst schob die Schneemassen aus der gesamten Spielstraße zunächst an den Müllerschen Zaun, der unter der Last zusammenbrach. Frau Huber verlangte Schadenersatz von den Mietern. „Schnee ist höhere Gewalt, die damit verbundenen Risiken müssen von Ihnen getragen werden.“

Daraufhin vereiste Christiane die Fahrbahn, so dass der Schneeräumer auf der Spiegelfäche ins Schleudern kam, gegen eine Garagenwand prallte (nicht die Müllersche!) und der Fahrer eine leichte Gehirnerschütterung erlitt – angeblich.

Beim nächsten Schneefall stand Herr Müller morgens beim Öffnen der Gartentür vor einer zwei Meter hohen Schneemauer. Er konnte gottseidank über die Garage ausweichen.

Christiane machte Fotos und mobiliserte die Presse. Der Artikel mit der Überschrift „Familie unter Schneeterror, Reinigunsmafia am Werk?“ kostete den Fahrer, den stellvertretenden Firmenchef und den Sachbearbeiter ihren Posten.

Und dann ging im kommenden Winter alles gut. Eine andere Firma reinigte die kleine Spielstraße, und Christiane brachte dem Fahrer frühmorgens einen heißen Espresso ans Fenster.

Woraufhin ihr Mann anonyme Schreiben erhielt, die seiner Frau eine Affäre mit einem Straßenreininger andichtete. Das gleiche Schreiben fand seinen Weg auch in die Stadtverwaltung und wurde dort, im Gegensatz zum Hause Müller., ernst genommen. Der Mann musst gehen. Und die alte Firma wurde wieder beauftragt.

Wir schreiben das Schneesternenjahr 2022. Vor Weihnachten hüllt ein Tiefdruckgebiet ganz Deutschland fest in eine dicke weiße Umarmung. Auch die kleine Spielstraße ist schneebedeckt.

Christiane kennt den Tagesablauf der Straßenreinigung auswendig. SIe schreckt um 4 Uhr früh aus einem unruhigen Schlaf, zieht sich an, bewaffnet sich mit Schneeschaufel und Besen und wartet am Gartentor auf den Schneeräumer. Da kommt er auch schon. Mit seiner mächtigen Schaufel nimmt er eine Riesenladung gefrorenen Schnee auf und schiebt ihn gegen Christianes Gartenzaun. Rollt zurück. nimmt die nächste Ladung auf, gibt Gas und rammt das ganze an den Holzzaun. Die dahinter liegende Eibe knirscht, knackt und bricht unter der Last zusammen. „Halt“ schreit Christiane. „Halt, SIe, Sie, Sie…. MÖRDER“! SIe reißt das Gartentürchen auf und rennt dem Schneeräumer entgegen, der mit einer neuen Schneemasse auf sie zurast. Die Schaufel schleift am eisigen Boden entlang, nimmt Schnee und etwas Schwrzes, Gestikulierendes auf, fährt in die Höhe – und schleudert alles über den Zaun direkt in Müllers Garten.

Später wird der Fahrer beteuern, er hätte Christiane nicht gesehen. „Die Frau war ja rabenschwarz angezogen. Keine Warnweste und nichts. Und draußen war’s stockdunkel.“

Als Christiane das Krankenhaus nach drei Monaten verlässt, ist ihre Hüfte noch nicht ganz geheilt. Der Schädelbruch verursacht ihr immer wieder höllische Kpfschmerzen. Im Sommer zieht Familie Müller um. In eine Dachterrassenwohnung am anderen Ende der Stadt.

„“Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, legt die Vermieterin Christianes Nachmietern noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahe. Mal sehen, wie lange die hier bleiben, denkt sie, und fügt hinzu: „Ein gutes Verhältnis zur Straßenreinigung kann Vorteile haben.“

Adventskalender MiniKrimi am 7. Dezember


Eine schöne Bescherung 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am schlimmsten. Wenn draußen die Lichtgirlanden, in den Fenstern die Jakobsleitern und am Adventskranz die Kerzen leuchten, wenn die Luft nach Glühwein duftet und gebrannten Mandeln, wenn sich im Keller die Dosen mit frisch gebackenen Plätzchen stapeln und das Radio „Last Christmas“ in Dauerschleife dudelt, packen die Erinnerungen Erika jedes Mal mit aller Macht. Denn genau in dieser magischen, wunschprallen, nach Vergebung und Liebe suchenden Zeit ist Erika die schlimmste Kränkung ihres Lebens widerfahren. 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am besten. Wenn draußen ein eisiger Ostwind den Schnee vor sich hertreibt und drinnen vor dem munter flackernden Kaminfeuer Whiskey und Pfeife auf ihn warten, genießt Eduard die Erinnerungen am meisten. Und während das Holz in den Flammen knistert, ergreift die Genugtuung wieder Besitz von jeder Faser seines Körpers, prickelnd und über die Maßen erregend.

Erika hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Erstgeborene, ein Mädchen statt des ersehnten Stammhalters, schmal und schmächtig. Aus der konnte nichts „Gescheites“ werden, das hatte die Mutter gleich beim Anblick der Neugeborenen prophezeit. Im Laufe ihres Lebens hat Erika diese Erwartungen voll und ganz erfüllt. Von einer scheuen Schülerin, die sich statt in Freizeitaktivitäten lieber in Bücherwelten stürzte, entwickelte sie sich zur einer musikbesessenen Medizinstudentin. Natürlich gaben ihr die Eltern keinen Pfennig dazu, und Erika verdiente sich Studium, Bücher, Unterkunft und Essen durch Klavierunterricht. Dass sie ihr überhaupt erlaubten, die Universität zu besuchen, lag ganz einfach daran, dass sie dadurch früh „aus dem Haus, dem Auge und dem Sinn“ der Mutter verschwand.

Eduard interessierte sich schon im Kinderwagenalter für Geschwindigkeit: er stellte sich kerzengerade in seinem Buggy auf und hieb mit einem langen Schnürsenkel auf die Schwester ein, die ihn, wie ein eingespanntes Pferd, in Windeseile über den Hof ziehen musste. Mit fünf zerschnitt er die Bremsen ihres Fahrrads, woraufhin sie wie ein Pfeil die Straße bergab und gegen den Baum an der ersten Kreuzung sauste. Selbstverständlich trat er nach dem Realschulabschluss in das elterliche Autohaus ein und verdrängte den Vater, so schnell es ging, aus dem Geschäft. Sein rasanter Lebensstil kostete im Laufe der Zeit allerdings mehr, als ihm seine diesbezügliche Expertise einbrachte. Schließlich stand das Autohaus – das Lebenswerk des Vaters – kurz vor dem Konkurs. Dann starb die Mutter, und nur mit ihrem Geld konnte er die geschäftliche „Kurve kriegen“. Allerdings war dazu mehr als sein eigener Erbanteil nötig...

Erika, inzwischen längst Landärztin mit eigener Praxis, Ehemann und zwei Kindern, saß bei der Testamentseröffnung kerzengerade auf dem Ledersofa. Sie musste gegen die ungehindert durch die großen Fenster in den Raum hineinstürzende Sonne blinzeln und nahm den Anwalt, den die Mutter offenbar kurz vor ihrem Tod mit ihren Angelegenheiten betraut hatte, – übrigens ein Kunde und Duzfreund ihres Bruders – nur als Scherenschnitt war.  Im Nachhinein hat sie versucht, das Testament anzufechten, um zumindest einen Pflichttei des Erbes zu erhalten. Vergeblich. Nachdem sie alle Instanzen durchlaufen hatte, nahm der Richter, der ihr in der letzten Verhandlung die allerletzte Hoffnung genommen hatte, sie beiseite. Ob ihr bewusst sei, dass ihr Anwalt zur Clique von Eduard gehöre? Er habe es wirklich geschickt angestellt, so dass ihm, dem Richter, bei dieser lückenlosen Vorgehensweise tatsächlich die Hände gebunden gewesen seien.

Eduard sitzt vor seinem Kamin. Verträumt betrachtet er die Glut. Um ihn herum nur die Stille einer sternenklaren Nacht. Er hat den Brief zweimal gelesen. Wort für Wort. Aber er kann keinen Fallstrick erkennen. Nur eine tiefe Traurigkeit. Erika war schon immer melancholisch veranlagt. Sie schreibt, dass ihr Mann gestorben sei. Ein Unfall, der die gesamte Familie in arge Bedrängnis gebracht habe. Sie könne die Praxis nicht mehr halten und werde wohl auch aus dem Haus ausziehen müssen. Das wenige Geld, das ihr bleibe, sei für die letzten Studienjahre ihre Kinder bestimmt. Nach so viel Leid habe sie das dringende Bedürfnis, in ihrem Leben Ordnung zu schaffen. Sie wolle den Zwist mit ihrem Bruder beilegen. „Lassen wir den Schnee von gestern doch einfach tauen“, schrieb sie. „Und endlich wieder wie Geschwister zueinander sein.“

Der dem Brief beigelegte Versöhnungstropfen muss noch aus dem Weinkeller seines Schwagers stammen. Ein vorzüglicher Chateau Lafitte. „Santé, Schwester“, sagt Eduard und hebt das Glas.

Dank seiner Selbstgerechtigkeit ist er kaum überrascht, als sie trotz vorgerückter Stunde vor seiner Tür steht, und es gelingt ihm gerade noch, ihr das Glas in die Hand zu drücken, als die Welt um ihn herum sich zu drehen beginnt. Sekunden später liegt er leblos auf dem Terracottaboden.

Frau Dr. Erika Monhaupt ist untröstlich, den Bruder so unmittelbar nach ihrem Wiedersehen verloren zu haben. Dabei verschweigt die Ärztin natürlich sowohl ihren Brief samt Versöhnungsgeschenk als auch ihre Kenntnis bezüglich der Ursache für den plötzlichen Tod ihres Bruders. 

Die Vorweihnachtszeit, denkt sie, während draußen dichte Schneeflocken tanzen und im Kamin ein lustiges Feuer prasselt, ist doch gar nicht so übel. Morgen kommen die Kinder. Ist das nicht eine schöne Bescherung?

Adventskalender Minikrimi am 19. Dezember


Foto: Polarnacht

Heute noch ein Krimi von meiner Autorenkollegin Mona Moldovan. Sie reist regelmäßig in den hohen Norden. Das Foto ist von ihr. Danke, liebe Mona.

Nordlichter

1.
Ich wache leicht verkatert auf, habe gestern den letzten Rest „Linie“ Aquavit getrunken. Die Flasche habe ich aus Deutschland mitgebracht und sie für ganz besondere Notsituationen aufbewahrt. Wie absurd: Der Inhalt wurde hier in Norwegen hergestellt, zweimal über die „Linie“ (Äquator) verschifft (das soll den besonderen Geschmack verleihen), dann exportiert, dann nach Süddeutschland geliefert, und schließlich in meinem Gepäck über Oslo nach Tromsø und mit dem Schneemobil hierher transportiert, ins Nirgendwo. So eine Flasche bewahrt man für besondere Fälle auf. Gestern war es soweit. Zum Glück ist sie heute leer, weil Alkohol nicht beim Denken hilft; zumindest mir nicht, und ich muss verdammt nochmal denken. Nicht, dass es eilt; bis es taut, wird es Mai. 

Aber gerade das ist auch mein Problem: die Erde und alle Seen, die ganze Welt um mich herum: alles weiß und hart und tiefgefroren. Die Leiche auch. Daher muss ich nachdenken: wie werde ich sie los, sodass niemand sie jemals findet. Wie werde ich ihn los. Wären wir weiter südlich, hätte ich mehr Ideen. Norwegen hat sehr tiefe Fjorde und nicht alle frieren in Winter zu, die wenigsten eigentlich. Näher am Atlantik hätte ich auch keine großen Probleme damit. Aber hier in diese weiße Wüste wird es ungleich schwieriger. Bei minus zwanzig Grad ist es einfach unmöglich, ein Loch zu graben, um einen erwachsenen Mann darin zu beerdigen. Auch, wenn er in den letzten Jahren etwas geschrumpft und abgemagert ist. Ihn in einem See zu versenken kann ich auch vergessen. Ich weiß nicht, wie dick das Eis ist, aber egal ob dreißig Zentimeter oder drei Meter. Es ist auf jeden Fall zu dick. 

2.
Diese verdammte Einsamkeit. Ich habe immer mit der Illusion gelebt, dass es mir nichts ausmacht, alleine zu bleiben. Dass die Einsamkeit sich hier genauso anfühlt wie in den letzten Jahren, wie im Rest der Welt. Aber hier ist sie noch härter, rauer und jetzt absolut endgültig. Ichdenke darüber nach, wie es dazu kam, eigentlich ist es keine komplizierte Geschichte. Die Jahre sind gekommen und gegangen. Wir hatten uns immer weniger zu sagen, und die Liebe ist versickert, das Ende nah, aber nie zum Greifen. Wir teilten eine Wohnung, aber waren irgendwie nie am selben Ort zusammen; wir teilten Erinnerungen, aber nicht mehr die Gegenwart und schon gar keine Pläne für die Zukunft. Die Stille war so laut, dass ich auf die Idee kam, uns für den Winter eine Hütte in Lappland zu mieten, um, weit abseits von Zivilisation, Internet und anderen Ablenkungen, endlich ehrlich miteinander zu sein. Das ist dann leider gründlich misslungen. Oder vielleicht ist es auch gründlich gelungen: Jedenfalls waren wir irgendwann viel zu ehrlich miteinander. Ein Wort ergab das anderen, und irgendwann habe ich mich dann vergessen. Oder gehenlassen? „Provoziere nie eine Frau, wenn sie ein Messer in der Hand hält“, habe ich früher oft gescherzt, ohne zu ahnen, dass daraus irgendwann bitterer Ernst werden würde. Es ist so leicht und ging so schnell. Ein Stich – und dann Stille. Für immer. Ich bin nicht wirklich allein. Sein Körper ist ja noch hier. Aber irgendwie fühle ich mich plötzlich verlassen. Einsam.

3.
Der Wintersturm hat viele Stunden heftig gewütet, aber nun ist es ruhig geworden. Am Vormittag versucht die Sonne, hinter dem Horizont aufzusteigen. Sie schafft es nicht, es ist Polarnacht. Die wenigen Stunden, bis sie aufgibt, sieht der Himmel in allen Nuancen von Pink und Orange wie gemalt aus. Auf einmal weiß ich, was ich tun werde. Es ist ziemlich schwer, aber irgendwie schaffe ich, die Leiche auf dem Schneemobil festzubinden. Ich habe vor, ganz weit zu fahren und ihn irgendwo abzulegen, wo es schön ist und weiß und wo niemand je hinkommen wird. Vielleicht. Hoffentlich. 

Als ich losfahre, ist es schon wieder dunkel. Ich bin bereits lange unterwegs und beginne zu frieren, als ich merke, dass mein GPS nicht mehr funktioniert. Der Akku ist leer oder einfach eingefroren. Der Sturm hat die Wege verschüttet. Die Spuren meines Schneemobils verschwinden in der glänzenden Wüste und ich weiß nun, dass ich die Orientierung endgültig verloren habe. Aber das macht mir keine Angst. Ich fahre lange, ohne Ziel und ohne die Zeit zu beachten, bis mein Sprit fast alle ist, dann halte auf einer Lichtung, oder vielleicht auf einem gefrorenen See, wer weiß das schon. Die Nacht glänzt und funkelt magisch im Sternenlicht. 

Und dann sehe ich die ersten grünen Strahlen am Himmel. Zunächst schwach, wie die Finger einer Zauberfee. Dann eine hellere Flamme, die schnell verschwindet, bevor die nächste erscheint. Bald brennt der gesamte Himmel: tanzende, kalte, atemberaubende Nordlichter überall. Die Luft fühlt sich klar an und hart. Ich bin so müde. 

Es ist so wunderschön.

4.
Als eine raue Hundezunge über mein Gesicht leckt, wehre ich mich fast gegen die Stimmen, die mich ins Leben zurückrufen. In die Verantwortung. 

Adventskalender Minikrimi am 9. Dezember


Foto: 8Moments

Dieser Minikrimi wurde von Mona Moldovan geschrieben. Er ist eine Variation zum gestrigen Thema – Last Christmas und die Männer. Und Frauen… Danke, liebe Mona!

Die Weihnachtsfeier

Die Einladung liegt ganz unten in dem Stapel mit Weihnachtskarten, die sie aus dem Postkasten geholt hat. Christine will sie schon achtlos wegwerfen, als ihr Blick auf den Absender fällt. Den Namen der Steuerkanzlei in Grünwald kennt sie gut. Es ist der Name, den sie einmal zu tragen gehofft hatte. Wenn sie daran denkt, wie es dazu kam, dass es dann doch nicht dazu kam, versetzt ihr das immer noch einen Stich ins Herz. Sie erinnert sich an diesen Dezembernachmittag vor zwei Jahren, als sei es gestern gewesen.

Sie kam früher nach Hause, vollgepackt mit Geschenken. Leise schlich sie hinein, um die Geschenke zu verstecken, so dass Matthias sie nicht vor der Bescherung finden würde. Aber dann entdeckte SIE etwas, was sie nicht hätte finden sollen, und zwar ihn. Im Bett mit dieser Blondine, einer Kollegin… wie hieß sie nochmal?

„Das ist doch nun sowas von egal“, denkt sie. Aber das ist nur so dahin gedacht, egal ist es ihr immer noch nicht. Matthias zog unmittelbar danach aus, und sie verbrachte sehr traurige Weihnachten. Die Monate danach waren auch nicht leichter. Die Trennung, der finanzielle und gesellschaftliche Abstieg. Er war nun fest mit dieser Frau zusammen, der Kollegin und Steueranwältin. „Schwamm drüber“, versucht sie sich einzureden. Es klappt nicht.  

Wenige Tage später hat sie die Münchner Innenstadt kreuz und quer auf der Suche nach dem passenden Kleid für die Feier abgesucht. Am Ende findet sie es in einem großen, luxuriösen Kaufhaus. Rot, lang, sexy. Sie hat noch nie so viel Geld für ein Kleidungsstück ausgegeben, fast eine Münchner Monatsmiete. Leisten kann sie sich das eigentlich nicht, mit ihrem kleinen Gehalt als Angestellte im sozialen Bereich. Aber sie will Matthias zeigen, was er verloren hat. Aus Liebeskummer hat sie damals etliche Kilos abgenommen, die nur zum Teil wieder drauf sind. Ihre Haare sind jetzt auch blond. Und das Kleid steht ihr wirklich ausnehmend gut.

In den Tagen vor der Weihnachtsfeier hat es geschneit, und die großen Villen in Grünwald sehen aus wie auf einer Weihnachtspostkarte. Die Adresse findet sie schnell, Google Maps sei Dank, und zum Glück ist sie auch nicht weit von der Tram entfernt, sonst würde sie womöglich mit den geliehenen High Heels im Schnee steckenbleiben. Ein blutroter Teppich führt durch den verschneiten Garten zum Haus, links und rechts davon brennen Fackeln. Am Eingang zeigt sie die Einladungskarte mit dem goldenen Rahmen und dem mit Füller geschwungenen „M“ als Unterschrift. Der Portier verbeugt sich, nimmt ihr den Mantel ab und zeigt ihr den Bereich, wo Glühwein und Caipirinhas stehen. Der Caipirinha ist heiß und sehr stark. Und drinnen erst… überall laufen Kellner mit Tabletts voller Cocktails und Leckereien herum. Das ist schon ein Unterschied zu ihrem Büro, wo die Kolleginnen sich mit selbst gebackenen Plätzchen und Glühwein von Aldi eine kleine Feier nach der Arbeit organisieren müssen.

Sie weiß, dass sie nicht zu viel trinken sollte. Alkohol macht sie immer leicht aggressiv, sie bekommt Lust, sich zu streiten und etwas kaputt zu machen… Aber wie sollte sie den Abend sonst überstehen? Sie kennt niemanden und niemand ist daran interessiert, sich mit ihr zu unterhalten. Das teure Kleid ist hier eines von vielen, und die Männer scheinen nur Frauen interessant zu finden, die gerade der Pubertät entwachsen sind. An einer Mittvierzigerin hat offenbar niemand Interesse. Auch Matthias scheint sie nicht zu beachten. Sie hat ihn nur flüchtig gesehen, aber er hat sie offensichtlich nicht wahrgenommen. Und nun ist er ganz verschwunden. Die Blondine hat sie den ganzen Abend nicht zu Gesicht bekommen (und wie sie heißt, daran erinnert sie sich immer noch nicht). Vielleicht ist es besser so. Sie könnte sie immer noch umbringen, auch wenn das alles jetzt schon zwei Jahre her ist.

Nach dem dritten Cocktail (oder vielleicht nach dem vierten?) sucht sie eine Toilette, aber alle sind besetzt. „Vielleicht müssen sich die jungen Frauen ihre Cocktails nochmal durch den Kopf gehen lassen. Zu viel Alkohol ist schließlich nicht gut für die Figur“, denkt sie garstig. Und geht die Treppe hinauf. Im oberen Stockwerk ist es dunkel und merkwürdig still. Sie versucht, eine Tür zu öffnen. Abgeschlossen. Auch die nächste. Und die übernächste. Dann kommt sie zu einer, die einen Spalt offen steht. Dahinter hört sie unmissverständliche Geräusche. Sie erstarrt, als eine junge Frau mit langen roten Locken heraus kommt, aber die Frau sieht Christine nicht. 

Die Tür steht nun weit offen, und sie erkennt den Mann dort im Zimmer sofort.

Und er sie. 

„Matthias…“ flüstert sie. „Christine?…“ lallt Matthias. „Was zum Teufel machst du hier? Wer hat dich eingeladen? Willst du wieder eine Szene machen? Ich hab‘ echt keine Lust auf euch alte Schachteln, die letzte habe ich gerade letzte Woche abserviert…“  Er versucht, seine Hose zu schließen, hat aber sichtlich Schwierigkeiten. Und nun weiß Christine, dass sie die ganze Zeit falsch lag. Nicht die andere Frau ist an ihrer Misere schuld. Sie macht einen Schritt ins Zimmer, und noch einen, plötzlich steht sie vor diesem Schreibtisch. Sie streckt ihre Hand aus – und dann sieht Matthias den Brieföffner in ihrer Hand. „Nein! Christine! Ich hab’s doch nicht so gemeint…!“

Er schreit nur einmal, ganz kurz und zu leise. Unten hat der DJ grade Helene Fischer aufgelegt, und die Menge gröhlt: „Atemlos…!“

Als Christine durch die glänzende Winternacht in Richtung Tram spaziert, geht es ihr auf einmal sehr gut. Ein Arschloch weniger auf der Welt. Jetzt soll ihr erst mal jemand etwas nachweisen. Sie hat sich ja mit niemandem unterhalten, und niemand hat sie beachtet. Ab vierzig werden Frauen irgendwie unsichtbar. Manchmal ist das gut so. 

Aber eine Frage lässt ihr keine Ruhe: wer hat sie zur Party eingeladen? Dann erinnert sie sich auf einmal. Die blonde Frau, mit der sie Matthias damals erwischt hat, heißt Marlena. Ein geschwungenes M als Unterschrift auf der Einladung. 

Als sie in die Trambahn Nummer 25 steigt, summt sie leise „Last Christmas“.  

Adventskalender Minikrimi am 8. Dezember


Foto von Coyot

Last Christmas  – Ein Krimi von meiner Co-Autorin Lydia H.

Schon wieder!  Wenn sie dieses verdammte Weihnachtslied noch einmal hören müsste, würde sie…..

Leider war Katja so gar nicht in der Situation,  irgendetwas zu unternehmen.  Nicht mehr. 

„Last Christmas….“. und noch einmal.  Obwohl die Verkäuferinnen des großen Warenhauses sich mit der Geschäftsführung geeinigt hatten,  das Lied nur noch dreimal pro Stunde zu spielen,  erklang es alle 10 Minuten.  Die Kunden liebten es eben.  Auch Katja,  die bis vor einem Jahr mehrmals pro Woche als Kundin hier gewesen war, hatte es immer gemocht. Schließlich hatte dieses Lied sie seit seinem Erscheinen zu Weihnachten 1984 durch eine glückliche Jugend und später eine ebenso glückliche Ehe hindurch begleitet.  Behütet, gut situiert, mit zwei entzückenden Kindern gesegnet. 

Bis last christmas. und zwar wortwörtlich. Die Kinder, längst aus dem Hause,  verbrachten die Weihnachtstage immer noch in der heimischen Villa.  Ausgerechnet an Heiligabend, unter dem stattlichen Weihnachtsbaum, ließ Markus,  Katjas Ehemann,  die Bombe hochgehen. Für Katja nicht unerwartet,  wie sie sich eingestehen musste. Selbst für einen so erfolgreichen Schlagerproduzenten wie Markus waren es in den letzten Monaten  einfach zu viele Überstunden und Geschäftsreisen gewesen. Der wahre Grund hieß Michelle,  war süße 24 und im sechsten Monat schwanger.  

Katja hatte bei ihrer Eheschließung der Gütertrennung zugestimmt und war sogar dankbar dafür gewesen. Damals wollte Markus, der erfolglose Musiker, sie damit schützen..  Zumal Katja als erfolgreiche Lektorin für den gemeinsamen Lebensunterhalt sorgte. Dann wurde Markus als Produzent sehr erfolgreich,  die Kinder kamen und Katja gab ihren Job auf. Es fiel ihr nicht mal schwer.

Die Abwicklung der letzten 20 Jahre ging dementsprechend schnell. Katja musste die Villa verlassen. Während sie sich jeden Anspruch auf Unterhalt, geschweige denn auf einen Teil des beträchtlichen Vermögens, abschminken konnte, galt das nicht für ihr Äußeres. Stark geschminkt stand sie alsbald, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als Verkäuferin in der Kosmetikabteilung des Warenhauses, dessen geschätzte Kundin sie bislang war. Die Highheels hatte Katja gegen flache Schuhe getauscht.  Dennoch taten ihr die Füße nach 9 Stunden stehen weh. Und die offene oder auch versteckte Häme ihrer früheren Bekannten zu ertragen,  die sie nun bedienen musste,  war beschämend.

Endlich Feierabend.  Gerade in der Vorweihnachtszeit kostete der Job als Verkäuferin viel Kraft.  Begleitet von den letzten klängen der hundertsten Wiederholung von Last Christmas wurde Katja aus dem Kaufhaus hinausgespült, mitten in die überfüllte Fußgängerzone.  Sie schlängelte sich zwischen genervten Menschen und  Weihnachtsbuden bis zur befahrenen Kreuzung durch.  In 5 Minuten würde sie im Bus sitzen, auf dem Weg in ihr Einzimmerapartment  am Rande der Stadt. Sie erkannte Markus‘ Wagen sofort am personifizierten Nummernschuld: M-BIG 1. Und daran, dass er ohne abzubremsen auf die inzwischen für ihn rote Ampel zufuhr – immer auf der Überholspur, eben. Und dann stand da neben ihr diese blonde Frau im pinkfarbenen Pelzmantel, wedelte aufgedreht mit ihrem designertaschenbewehrten Arm und schrie: „Schaatzimaus, hiiier bin ich!!“ Dabei knallte eine der Tragetaschen Katja ins Gesicht. Es mussten ein Schuhkarton drin sein, dem Schmerz nach zu urteilen. Den Buggy mit Kleinkind neben der Frau registrierte Katja gar nicht.

Es war nur ein kleiner Schubs. Genau genommen hatte die Blondine ja grün. Aber Markus war zu schnell, um abzubremsen.  Die Polizei fand leider keine Augenzeugen für dieses schreckliche Unglück. Die Menschen waren einfach weitergegangen. Auch Katja. 

Das Kleinkind im Buggy schaute mit großen Augen interessiert auf den pinkfarbenen Fleck auf dem Zebrastreifen, drehte sich zu seinem Au-Pair-Mädchen um und sagte klar und lächelnd: Mama.

Adventskalender Minikrimi Countdown


Draußen schwimmen Wattewolken über blasses Blau. Sie flüstern von Schnee, von Kerzenlicht, vom ersten Advent. Um vom Adventskalender Minikrimi, der morgen sein erstes Türchen für Euch bereit hält. Krimifans und Shortie-Lovers, Romantikfreunde und eilig Lesende – alle kommen auch heuer wieder auf Ihre Kosten. Versprochen!

Wie in jedem freuen wir uns über Eure Anregungen. Ihr könnt uns „Clues“ schicken, Wörter, um die herum wir unseren Krimi ranken sollen. Oder eine spannende Idee. ODER: Euren Gastbeitrag!

Noch einmal schlafen, dann ist es soweit. Morgen Abend, am 1. Dezember, startet der Minikrimi Adventskalender nur auf mariebastide.blogchristmas-2933027__340