Adventskalender MiniKrimi am 9. Dezember


Heute kommt also eine kürzere Geschichte. Und sie ist auch kein ganz richtiger Krimi. Obwohl darin ein Selbstmord und sogar ein Mord verhindert werden. Viel Spaß beim Lesen! Und ich freue mich auf und über Euer Feedback.

Übrigens: seit gestern habe ich eine neue Brille. So ganz klappt das mit der Gleitsicht noch nicht. Wie Ihr vielleicht merken werdet 🙂

Wie besiege ich einen Drachen?

„Mama, ich kann nicht in die Schule. Mir ist schlecht.“ Aslans Stimme klingt leise und brüchig. Aber so schnell kann er seine Mutter nicht überzeugen. „Was, schon wieder? Du warst doch erst letzte Woche einen Tag daheim. Du verpasst viel zu viel Unterrichtsstoff.“ „Mama, ehrlich, ich hab so Bauchschmerzen.“ Der Junge hockt sich auf die Bettkante, die Lippen zusammengekniffen, die Augen leidend. Er presst beide Hände auf den Magen und krümmt sich.

„Na gut. Ich rufe in der Schule an. Und dann auch gleich bei Doktor Klebe. Das passiert einfach zu oft. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen.“

Die Aussicht, zum Kinderarzt zu müssen. ist für Aslan beinahe genauso schrecklich wie die auf einen ganzen Tag in der neuen Klasse. Aber nur beinahe. „Ok, danke, Mom“, sagt er leise und denkt: Bis wir bei Doktor Klebe einen Termin kriegen, lassen sich Mia und ich was einfallen, damit ich nicht hin muss.

Mia ist Aslans Siamkatze. Sie saß eines Tages auf der Terrasse und ließ sich von niemandem anfassen. Außer von Aslan. Zu diesem Zeitpunkt war sie weder gechipt noch kastriert, und alle Versuche, überTierschutz, Polizei und Soziale Medien ihre Besitzer ausfindig zu machen, blieben erfolglos. Seitdem sind Mia und Aslan unzertrennlich. Man sagt Siamkatzen ja eine hohe Intelligenz nach, gepaart mit einer gehörigen Portion Durchsetzungskraft. Alles Eigenschaften, die Aslan an sich selbst noch nicht entdecken konnte.

Wenn er, wie so oft seit dem Wechsel in die 5. Klasse und die neue Schule, nachmittags müde und mutlos nach Hause kommt, geht er als erstes in sein Zimmer und wirft sich auf’s Bett. Dort liegt Mia auf seinem Kopfkissen und schaut ihn wissend aus einem Paar stechend blauer Augen an. „Na, war’s wieder so schlimm, heute? Erzähl“, sagt ihr Blick. Und Aslan redet sich den Frust von der Seele. Alex hat sich sein Federmäppchen geschnappt, und dann haben er, Mike und Dani damit Volleyball gespielt, solange, bis der Reißverschluss kaputtgegangen ist und der Inhalt im ganzen Klassenzimmer rumflog. Oder Dani hat die Brotbox aus dem Ranzen geklaut, sie aufgemacht und gespielt verduzt gerufen: „Hey, der Aslan wird sogar von Apfelschnitzen fett. Oder geht er in der Pause heimlich zur Pommesbude? Hä, Aslan, gib’s zu, du Fettsack!“

In letzter Zeit machen sogar ein paar Mädchen mit. Egal, was sie selbst für Fehler haben. Aslan ist immer der willkommene Prellbock. „Natürlich. Während sie über dich lachen, sind sie vor dem Spott der anderen sicher“, hat Mia ihm erklärt. Aber das ist ein schwacher Trost, denn Aslan fällt nichts ein, womit er die anderen bloßstellen könnte. Das ist einfach nicht seine Art. Und dass er gut in Deutsch und Kunst ist, bringt ihm in der Klasse auch keine Pluspunkte. Im Gegenteil. „Aslan wird später mal so ein dicker, fauler Lehrersack wie Herr Müller“, hat Denise gestern erst erklärt. Herr Müller ist der meistgehasste Lehrer in der Schule, massiv übergewichtig, glatzköpfig, ungepflegt und hinterhältig. Seine Fächerkombination ist Kunst und Deutsch.

Mehr als einmal ist Aslan seitdem auf dem Heimweg lange auf der Brücke stehengeblieben und hat in den Fluss geschaut. Ob man gleich stirbt, wenn man aus dieser Höhe runterspringt? Oder ob man warten muss, bis unten ein Kahn vorbeifährt, und versuchen, auf dem Deck zu landen? Dann ist man sicher Matsch. In den letzten Tagen spürt er, wie das Wasser ihn magisch anzieht. Immer stärker.

Nein, es ist kein Wunder, dass Aslan nicht mehr gern zur Schule geht. Die Bauchschmerzen muss er gar nicht vortäuschen. Es genügt, dass er sich vorstellt, wie die anderen lachen, wenn er zur Tür reinkommt, und schon verkrampft sich sein Magen und fängt an, zu brennen. Ungefähr so, als würde ein Drache in ihm hocken und Feuer spucken.

Als er heute nach der letzten Stunde auf den Schulhof kommt – als letzter, weil Alex ihm in der Pause das Handy abgenommen und dann im Unterricht hat klingeln lassen, woraufhin Frau Dietz es kassiert und Aslan eine Straferbeit aufgebrummt hat – natürlich ohne sich für den Hergang zu interessieren – steht das Auto seiner Mutter vor dem Tor. „Du hast ja wieder mal furchtbar getrödelt, Aslan. Schnell, steig ein, wir haben gleich einen Termin beim Kinderarzt.“ „Mist“, denkt Aslan. Auf die Schnelle fällt ihm keine Ausrede ein, und auf Mia kann er jetzt auch nicht zurückgreifen. Aber eins weiß er genau: dem alten Mann mit den grauen Locken und dem strengen Blick wird er bestimmt nicht erzählen, woher seine Bauchschmerzen kommen. Dann hält er ihn womöglich für verrückt und steckt ihn in die Kinderpsychiatrie, so wie Marie von gegenüber. Die hatte immer Albträume, und dann war sie plötzlich für lange Zeit verschwunden. Und als sie zurückkam, war sie ganz still. Sie hat ihm nie wieder von schlimmen Träumen erzählt, aber auch von nichts anderem. Und dann ist sie mit ihrer Mutter weggezogen. Ohne den Vater. Nein, das will Aslan nicht riskieren.

Aber dann kommt alles anders. Doktor Klebe ist nicht da. Seine Vertretung ist viel jünger, hat lange braune Haare und redet nur mit ihm, nicht mit seiner Mutter. Sie hört seinen Bauch ab, schaut ihm in den Hals, die Augen und die Ohren. Und dann sagt sie tatsächlich: „Frau Beck, ist es für Sie ok, wenn ich einen Moment alleine mit Aslan spreche? Er ist doch auch nicht dabei, wenn Sie zum Arezt gehen, oder?“

Die Mutter ist verblüfft und schaut erstmal skeptisch. Aber als Aslan nicht protestiert, geht sie mit einem Achselzucken aus dem Sprechzimmer.

„Aslan, dein Bauch ist ok. Und auch sonst fehlt dir nichts. Körperlich. Aber kann es sein, dass dich was bedrückt?“ Als er nicht antwortet, spricht sie weiter: „Als ich so alt war wie du, bin ich in eine andere Schule gekommen. Du weißt schon, aufs Gymnasium. Da habe ich lange keine Freunde gefunden. Ich war noch nie so alleine wie damals. Und ich wollte am liebsten nicht mehr zur Schule gehen. Kennst du das?“

Aslan schaut sie an. Dann bricht es aus ihm heraus: „Mit der Einsamkeit würde ich schon zurecht kommen. Aber die lassen mich einfach nicht in Ruhe. Fettklops, nennen sie mich. Stimmt ja auch. Aber wenn sie mich ständen fertig machen, Mobbing heißt das, ich weß das schon, dann kriege ich nur noch mehr Hunger. Ja, ich kenn das, ich will auch nie mehr in diese Schule. Können Sie da was machen?“

Die Ärztin schaut ihn sehr freundlich an. Beinahe liebevoll. „Ja und nein. Ich kann dir kein Attest schreiben, das dich für immer vom Unterricht befreit.“ Aslan presst enttäuscht die Lippen aufeinander. „Warte! Aber ich kann dir dabei helfen, dass das Mobbing aufhört.“

„Das glaub ich nicht“, sagt Aslan. „Wart’s ab, Du wirst schon sehen. Erzähl mir mal, was du so richtig gerne machst und ganz gut kannst. Nicht in der Schule.“

Aslan muss lange nachdenken. Was kann er? „In den Ferien habe ich einen Zirkus-Workshop besucht. Da habe ich gelernt, zu jonglieren und sogar Feuer zu schlucken. Das war toll. Aber was hat das mit dem Mobbing zu tun?“

„GIbt es in deiner Schule etwa keine Weihnachtsaufführung?“ „Doch, naklar. Aber…“

„Kein aber. Sprich mit denen, die das organisieren. Und überzeuge sie, dass das Ganze nur mit einem Jongleur und Feuerschlucker Erfolg haben kann. Und nach den Weihnachtsferien kommst du wieder und erzählst, wie es dir geht. Ok?“

Die Mutter ist zwar erstaunt, dass Aslan keine Medikamente verschrieben bekommt. Aber gleichzeitig ist sie erleichtert, dass er nichts Schlimmes zu haben scheint.

Daheim redet Aslan lange mit Mia. Er kann sich überhaupt nicht vorstellen, woher er den Mut nehmen soll, Frau Dietz anzusprechen. Ausgerechnet die! „Dann spring ich doch lieber von der Brücke“, vertraut er Mia an. „Das wirst du gefälligst bleiben lassen. Oder schieb es wenigstens bis nach Weihnachten auf. Sonst haben wir hier so ne miese Stimmung, dass ich meinen neuen Kratzbaum bestimmt nicht kriege.“ Typisch Siamkatze, Ist sich selbt am nächsten.

Und dann geschieht noch etwas Unerwartetes. Frau Dietz hört sich seinen Vorschlag in Ruhe an, und statt ihn entrüstet oder, schlimmer, lachend rauszuschicken, nickt sie, schaut ihn lange an und sagt langsam: „Das ist eine richtig tolle Idee! Ich wusste gar nicht, dass du sowas kannst! Wir wollen um die Krippe herum eine Art Jahrmarkt aufbauen. Und der wirkt natürlich erst mit einem Jongleur so richtig. Aber ich braucbe eine Einverständniserklärung von deinen Eltern, dass du wirklich Feuer schlucken darfst.“

Gleich nach der ersten Probe verändert sich etwas im Verhalten von Aslans Mitschülern. Die Kids aus der 7. Klasse, die Musik machen und die größeren Sprechrollen haben, sind sofort begeistert von Aslans Können. Sie fragen ihn ganz viele Sachen und wollen, dass er ihnen seine Tricks beibringt. Alex, Dani und die anderen stehen dabei und staunen. Als erste kommt Alice auf Aslan zu und fragt, ob sie zusammen heimgehen wollen.

„Na, wie geht’s dir?“, fragt die Ärztin, als sie sich im Januar wiedersehen. „Och, ganz gut“, antwortet Aslan. Meine Mutter hat mich in einer Zirkusschule angemeldet, zweimal die Woche ist Training. Alice geht auch hin. Sie macht Akrobatik.“

„Und sonst?“ „Ach ja, noch was. Ich hatte ja geplant, bei der Vorführung den Alex in eine lebende Fackel zu verwandeln. Aber dann habe ich mich in letzter Sekunde doch dagegen entschieden. Mobbing ist eine Sache, aber Mord wäre noch schlimmer gewesen, oder?“

Ent-blättert


Gestern las ich auf Facebook einen Post in Zusammenhang mit der „Affäre Aiwanger“, der mich streckenweise an meine eigene Vergangenheit erinnerte. Deshalb – und weil ich denke, dass vielleicht auch einige von euch ähnliche Erinnerungen und Erfahrungen haben, „antworte“ ich darauf in meinem Blog.

In dem Post ging es darum, dass der Verfasser schrieb, in den 1960er und 1970er Jahren seien, auch in den Schulen, „Judenwitze“ kursiert. Er beschrieb die Reaktion seines Vaters, als er aus der Schule einen solchen Witz nach Hause brachte und vortrug: eine schallende Ohrfeige. Die habe sich ihm eingebrannt und ihn bis heute sensibilisiert für antisemitische Äußerungen.

Auch ich erinnere mich, in der Schule, es muss die 1. Klasse des Gymnasiums gewesen sein, solche Witze gehört und weitererzählt haben. Ich weiß genau, dass ich überhaupt keine Vorstellung davon hatte, was oder wer Juden waren. Ich werde den Witz hier nicht wiedergeben. Aber als Kind fand ich ihn ob seiner evidenten Absurdität tatsächlich lustig.

Zuhause beim Mittagessen gab ich ihn zum Besten. Und nein: ich erntete keine Ohrfeige. Stattdessen nahmen sich meine beiden Eltern viel Zeit, um mich, lange, bevor das Thema im Geschichtsunterricht an der Reihe war, sehr ausführlich über die Shoah und all das, was im Dritten Reich passiert war, aufzuklären.

Mein Großvater mütterlicherseits war Fotograf und Kinobesitzer. Seine Welt bestand zum Großteil aus Menschen jüdischen Glaubens. Er hat einer Reihe von ihnen aktiv geholfen, Deutschland zu verlassen. Durchaus unter Lebensgefahr. Er hat schon 1936 vor dem Krieg gewarnt.

Mein Vater war während des Krieges für das italienische Rote Kreuz tätig. Auch er hatte viele jüdische Freund*innen, die er während der deutschen Besetzung unterstützte.

Meine Eltern erzählten mir von persönlichen Erfahrungen, von ihren jüdischen Freundinnen und Freunden. Davon, dass viele Familien zu lange nach Hitlers Machtergreifung nicht daran dachten, auszureisen, sich in Sicherheit zu bringen. Denn „wir sind doch Deutsche“ bzw. „wir sind doch Italiener“. Es war für sie unbegreiflich, dass man sie aufrund einer Religionszugehörigkeit – die viele nicht einmal ausübten – verfolgen oder gar töten könne. „Das geht vorbei“, sagten sie. Oder „das werden unsere deutschen Landsleute nicht zulassen.“

Und dann geschah genau das. Und ihre Landsleute nahmen entweder an der Verfolgung, der Enteignung, der Verschleppung, der Ermordung teil, oder sie schauten zu – oder weg. „Wenn heute jemand sagt, sie hätten nichts von der Shoah gewusst, dann lügen sie. Allein der Geruch war unverkennbar,“ hat meine Mutter mir erklärt.

Ich Kind konnte nicht verstehen, was damals geschehen war. Aber ich verstand sehr wohl, dass die Menschen, die „in den Aschenbecher des VWs passten“, verbrannt worden waren. Noch lange nach diesem Tag hatte ich Albträume. Ich sah große Kinderaugen, schreckgeweitet. Ich sah hohe Öfen – und stellte sie mir vor wie den Backofen der Hexe in Hänsel und Gretel. Ich hörte ihre Schreie.

In der Schule schaut ich verstohlen meine Lehrer an, von denen fast die meisten so alt waren, dass sie Nazideutschland erlebt hatten, und fragte mich: „hat der auch Juden verbrannt?“

Ich wurde in der Zukunft eine glühende Feministin und Pazifistin. „Nie wieder“, lautete mein Credo. „Nie wieder – und ich muss meinen Beitrag dazu leisten.“

Mir ist völlig unverständlich, vom Denken wie vom Fühlen her, wie jemand in den 1980er Jahren, mitten in der Friedensbewegung, aus einer Schulkultur heraus, in der der Holocaust ausführliches Unterrichtsthema war, auf den Gedanken kommen konnte, eine solche Hetzschrift (das Wort wird dem Aiwanger-Pamphlet nicht gerecht, doch mir fällt kein schlimmeres ein, dass ich hinschreiben könnte) zu verfassen. Und zu verbreiten.

ich kann mir das nur so erklären, dass der familiäre Nährboden mit natianalsozialistischem Gedankendünger getränkt war. Dass der Holocaust nicht nur niemals thematisiert, sondern das sehr wahrscheinlich eine antisemitische Haltung gezeigt wurde. Wie sonst kommt ein Schüler auf die Idee, aus Rache an einem Lehrer so ein bodenloses menschenverachtendes Werk zu produzieren?

Die einzig andere Erklärung wäre, dass die Eltern so extrem judenfreundlich und vielleicht sogar sozialistisch waren, dass den Söhnen daraus Nachteile erwachsen wären, dass sie Neid verspürt und versucht hätten, den Eltern „eins auszuwischen“. Aber das ist natürlich utopisch. Und Blödsinn.

Bleiben also die Fakten: mitten im Wahlkampf taucht eine über 30 Jahre alte Hetzschrift auf. Und sie wirkt so glaubhaft, weil der potentielle Verfasser immer wieder gezeigt hat, dass er durchaus nationalistische Tendenzen hat, die einem Vertreter einer demokrtaischen Regierung nicht gut anstehen. Das Volk müsse sich die Demokratie zurückholen, sagte Aiwanger erst kürzlich auf einer Kundgebung. Und die Zitatenreihe ließe sich fortsetzen.

Ob es nun Aiwanger selbst war, oder sein Bruder, Inhaber eines Waffengeschäfts, oder wer auch immer aus dieser Familie, tut, meine ich, nichts zur Sache. Vielmehr können wir uns fragen, warum die Schrift genau jetzt ans Licht der Öffentlichkeit tritt.

Und dafür gibt es mehrere Erklärungen. Neben der Absicht, Aiwangers Wahlchancen zu verringern und die CSU zu destabiliseren gibt es da noch eine ganz andere Hypothese.

Was, wenn Aiwanger selbst alles lanciert hat? 1987 sagte Franz Josef Strauß, rechts von der CSU dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben. Wenn Aiwanger seine Freien Wähler so aufstellen würde, dass sie für alle, denen die CSU heute nicht mehr rechts genug ist, eine (r)echte Alternative für Bayern wären?

Wir werden sehen. Spätestens am 8. Oktober.

Adventskalender MiniKrimi am 17. Dezember


Es ist nie vorbei!

Draußen vor den Fenstern des Klassenzimmers strahlt ein herrlicher Sommertag. Der Himmel azurblau ohne ein Wölkchen. Im Kirschbaum auf dem Schulhof zwitschern die Vögel. Der Lehrer, konservativ gekleidet in braunen Zwirn mit grüner Krawatte, doziert, durchaus passend zur Jahreszeit, über Shakespeares Sommernachtstraum. Aber die Schüler*innen der 11. Klasse sind nur halb bei der Sache. Sie tuscheln und planen den Nachmittag, sie flirten, sie träumen aus dem Fenster. Ein klassischer Vormittag!

Und da ertönt auch schon der Gong. Die Schüler*innen stehen auf, einer wirft ungestüm seine Bank mitsamt dem Stuhl um, ein anderer stolpert über seine Tasche. Drei Mädchen haben einem Jungen das Handy weggenommen und tun so, als würden sie es aus dem Fenster werfen. Der Lehrer packt seine Bücher ein und schüttelt den Kopf über das Chaos in seiner Klasse – allerdings ohne sonderlich überrascht zu erscheinen.

Schließlich haben alle Schüler*innen das Klassenzimmer verlassen. Der Lehrer wischt die Tafel ab. Da fällt von irgendwoher aus dem Schulgebäude ein Schuss. Und noch einer. Der Lehrer hebt den Kopf, als wolle er Witterung aufnehmen. Wieder ein Schuss, eine ganze Salve. Jetzt bricht die Hölle los. Schrille Schreie, Hilferufe, Schritte wie von einer Herde ausgebrochener Elefanten. Die Tür zum Klassenzimmer wird aufgerissen. Zwei Jungen stürmen hinein, hinter ihnen drei Mädchen, ein weiterer Junge. Noch zwei Schüsse, diesmal ganz in der Nähe. „Schnell, unter die Bänke!“, ruft der Junge mit dem Handy. Zum Lehrer: „Sie auch!“ Er kriecht unter eine Bank und hält das Handy ans Ohr. Da steht plötzlich eine schwarz gekleidete Gestalt in der Tür. Sturmhaube, Hoody, Funktionshose, Springerstiefel. In der Hand ein Maschinengewehr, um die Schultern einen Patronengürtel. Ohne zu zielen feuert er eine Salve von einer Ecke des Raumes zur anderen. Der Junge mit dem Handy wirft eine Schulbank um und schiebt sie als Barrikade vor sich. „Schützt Euch!“, ruft er den anderen zu. Der Lehrer ist am Pult zusammengesackt. Auf seinem Hemd breitet sich ein roter Fleck aus. 

Der Junge schreit etwas ins Handy. „Amok“, und „Schule“, „Klassenzimmer 11 a, dritter Stock.“ Die Gestalt in der Sturmhaube sieht sich um, schießt noch einmal auf den Lehrer und geht. Wieder sind Schreie aus anderen Räumen zu hören. Dann – Stille. Langsam kriechen die Schüler*innen hinter ihren Verstecken hervor. „Ist er weg?“, fragt ein Mädchen. Schnelle Schritte, die Gestalt ist wieder da. Mit dem Gewehr im Anschlag, sie brüllt etwas Unverständliches, vielleicht ist es auch nur ein Verzweiflungsschrei. Lässt sich auf den Boden gleiten, hält den Lauf des Gewehres von unten ans Kinn. Wimmert. „Nein“, schreit ein Mädchen! „Nein, tu das nicht!“

Da taucht ein Mann aus dem Dunkel des Ganges auf. Kein Polizist. Kein Lehrer, denn die Lehrer*innen tragen während des Unterrichts keine Pistole. „Du Schuft, du Mörder!“, zischt er, hebt die Hand und tötet die am Boden liegende Gestalt mit einem gezielten Kopfschuss. 

„Es ist vorbei“, sagt er dann zu den Schüler*innen, die panisch im Kreis um die schwarze Gestalt hocken. Keine Angst, der tut euch nichts mehr.“

„Nein. Es ist nie vorbei!“, sagt der Junge mit dem Handy. Er steht auf, die anderen folgen seinem Beispiel. Sie gehen nach vorne, in die Mitte des Klassenzimmers. Dort nehmen sie die schwarze Gestalt in ihre Mitte. Vom Pult kommt der Lehrer dazu. Das Mädchen zeigt auf den Mann mit der Pistole: „Auch du bist ein Mörder!“ „Es wird nie vorbei sein, solange es Waffen zu kaufen gibt!“ rufen alle im Chor. 

Dann fällt der Vorhang. „Eine beeindruckende Art des Gedenkens an den Amoklauf vor 5 Jahren an dieser Schule. Und ein leidenschaftlicher Aufruf zur Gewaltlosigkeit“, schreibt die lokale Presse nach der Vorführung. 

Adventskalender MiniKrimi am 4. Dezember


Ausgemobbt

„Schau mal, die Kleine hat’s echt drauf. Ich glaub die steht auf SadoMaso.“ 

„Naja, war das SadoMaso, die Schultasche klauen?“ 

„Ne, aber das Begrabsche dabei.“ 

„Meinste?“ 

„Ist auch egal. Jedenfalls sieht’s doch so aus, als würde sie mehr davon wollen, oder warum rollt sie sonst so langsam vor uns her? Ist doch aufreizend, oder?“

„Total. Los, hinterher!“

Eine Woche zuvor. 

„Mist, verdammter!“ Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung schaut Anna dem Bus hinterher. Die Rücklichter färben den Nebel zuckerwattenrosa. Dann biegt er um die Ecke, und Anna starrt in das Winterdunkel der leeren Straße. Warum hat der Fahrer nicht auf sie gewartet? Er muss doch bemerkt haben, dass sie nicht da war. So ein Rollstuhl ist ja nicht zu übersehen. Und alles nur, weil nach dem Unterricht ihr Handy verschwunden war. Nicht verschwunden. Versteckt. Von Marvin und Flo. Beweisen kann sie es nicht, aber sie ist sich sicher. Die beiden lassen kaum eine Gelegenheit aus, um Anna zu mobben. Aber wer glaubt schon einem Rolli? „Bist du sicher, Anna? Vielleicht ist dir das Handy ja aus der Tasche gefallen,“ beschwichtigt die Lehrerin. „Heulsuse“, höhnen Jasmin und die Mädchenclique. 

Als sie es schließlich findet, ist es schon spät. Zu spät, um den Bus zu erreichen. Jetzt hat sie die Wahl: eine halbe Stunde warten oder den Weg nach Hause im Rollstuhl wagen. Zum Glück hat sie ihre Handschuhe dabei. Sie zieht die Kapuze ihres blauen Parkas fester und fährt los. Im Winter ist es nach der 7. Unterrichtsstunde schon fast dunkel. Und bei diesem Wetter läuft niemand freiwillig auf der breiten, zugigen Allee. Dann hört Anna Schritte. Immer schneller. Immer näher. Sie hat keine Chance. Marvin und Flo holen sie ein. Schubsen ihren Rollstuhl hin und her. Anna schimpft. Anna schreit. Schließlich versucht Marvin, ihr die Schultasche vom Schoß zu reißen. Dabei berührt er ihre Arme, ihre Brust. Flo lacht. Marvin wirft ihm die Tasche zu. Flo fängt sie auf, wirft sie zu Boden, sie kicken sie eine Weile hin und her. 

Da fährt eine dunkelblaue Limousine an ihnen vorbei, wird langsamer. „Hey, lasst sofort das Mädchen in Ruhe“, ruft eine Stimme durch die heruntergelassene Scheibe.“ Die zwei drehen sich um, starren den Fahrer an und rennen weg. „Alles ok?“, fragt die Stimme. Der Wagen hält an. Der Fahrer steigt aus. Anna schluckt. Er ist klein und drahtig, sieht aus, als wäre er ein Junge in ihrem Alter. Behände bückt er sich, hebt ihre Tasche auf, legt sie ihr in den Schoß und sagt: „Ich pass auf dich auf, Kleine. Die bist du los!“

Dann steigt er in den Wagen und fährt weg. 

Anna rollt nach Hause. und grübelt über die Worte des Fremden nach.

„Los, Marvin, lauf ma schneller. Hey, die legt heute ein Tempo vor.“

„Ja, Wahnsinn. Aber gleich haben wir sie, da vorne, an der Ampel.“

Tatsächlich schaltet die Ampel gerade in dem Moment auf rot, als der Rollstuhl mit der schmalen Person im blauen Parka die Bordsteinkante erreicht. Ein hastiger Blick nach links, dann nach rechts: die Allee ist an diesem nebelgrauen Spätnachmittag wie leergefegt.

„Pech, Süße, diesmal kommt dein Autofahrer nicht angerauscht, um dich zu retten. Jetzt biste dran.“

Und mit lautem Gegröle stürzen sich Marvin und Flo auf den Rollstuhl. „Stimmt, keine Zeugen!“, zischt die Person im blauen Parka. Eine Klinge blitzt auf, kurz, als die Ampel auf gelb schaltet. Bei grün liegen zwei leblose Körper am Straßenrand. Am Bordstein geparkt, ein klappriger Rollstuhl. Leer. Ein Stück weiter hinten wartet eine dunkelblaue Limousine. 

Am nächsten Morgen ist der brutale Mord an zwei Schülern der Gesamtschule an der Siegesstraße die Top-Schlagzeile in allen Medien. Annas Klasse hat zwei Mitschüler verloren. Annas Verlust ist größer: Zwei Verfolger – und ihr Vertrauen in das Gute im Menschen und die Verhältnismäßigkeit der Mittel. 

Adventskalender Minikrimi am 13. Dezember


Foto: Free-Photos

Freitag, der Dreizehnte

Heute versuche ich mich an einer Variation zum gestrigen Thema der Vorlese-Oma. Wie findet Ihr die Idee, verschiedene Autorinnen über das gleiche Sujet schreiben zu lassen? Viel Spaß beim Lesen… ach ja, und Kommissar Schaller ermittelt in der TV-Serie „München Mord“. Mein Geheimtipp….

Rund 50 Weihnachtsmärkte gab es in der Stadt. Aber der verhältnismäßig kleine „Adventszauber“  war längst kein Geheimtipp mehr und erfreute sich jedes Jahr wachsender Beliebtheit. Das lag sicher an den mit großer Liebe dekorierten Hütten und den vielen Details, die die Besucher in ein winterliches Bergdorf in Après-Ski-Stimmung versetzten: mit Kunstschnee verzierte Holzdächer, mit roten, grünen und goldenen Kugeln und Lichtern beladene Schlitten, aufgestellte Skier und natürlich ein riesengroßer Schneemann. Dazu ein buntes Programm von besinnlichen Adventschören bis hin zu zünftigem Alpenrock.

Die Hauptattraktion war jedoch bereits seit einigen Jahren der Auftritt der Vorlese-Oma. An sich ein diskriminierender Name, aber Hedwig von Stetten hatte nichts dagegen einzuwenden, dass sie auf Plakaten im ganzen Stadtgebiet so angekündigt wurde. Sie hatte bis weit über das Pensionsalter hinaus eine bedeutende Mädchenoberschule mit Internat geleitet. Wenn sie die einstigen Schülerinnen als ihre „Töchter“ betrachtete, war sie heute mehr als hundertfache Oma – und sicher auch bereits Ur-Oma. 

Als Lehrerin und Direktorin war von Stetten kühl, unnahbar, manche mochten sagen, hart erschienen. Als Vorlese-Oma entwickelte sie einen ganz eigenen Charme, der kleine und große Zuhörer und Zuhörerinnen verzauberte. Sie las nicht nur, sie lebte die Geschichten. Ihre Gesichtszüge veränderten sich, sie war in einem Moment das schüchterne Rotkäppchen, im nächsten die gebrechliche Großmutter und dann der furchteinflößende Wolf. Aber auch wenn  ein Kind zuweilen sein Gesicht im Pullover der Mutter verbarg und sogar Erwachsene erschrocken zusammenzuckten – die Vorlese-Oma war so beliebt, dass die Leute vor der Lesehütte Schlange standen, lange, bevor es losgehen sollte.

So auch an diesem 13. Dezember. Einem Freitag. Hedwig von Stetten war in keiner Weise abergläubisch. Wäre sie es gewesen, hätte sie vielleicht auf dem vom nächtlichen Blitzeis noch gefrorenen Boden mehr Vorsicht walten lassen, wäre nicht ausgerutscht und hätte sich auch nicht den Knöchel gebrochen. Sie hätte  – pflichtbewusst wie sie war – nicht aus dem übervollen Notaufnahme-Wartebereich des Krankenhauses ihre Freundin Senta Möbius angerufen – und Senta hätte demzufolge auch nicht an ihrer Stelle in dem roten Ohrensessel am künstlichen Hüttenkamin gesessen. Hätte, hätte, hätte.

Stattdessen fand sich die zuverlässige Senta um 15 Uhr in der Lesehütte ein, erklärte ihre Anwesenheit und nahm den Veranstaltern jeden etwaigen Zweifel an ihrer Qualifikation als Lese-Oma-Ersatz, in dem sie ihnen erklärte, dass sie von Beruf Sprecherin war und bereits unzählige Hörbücher aufgenommen hatte.

Sie setze sich probeweise in den Ohrensessel und bemerkte, dass dieser nur von einer üppigen Lichterkette beleuchtet wurde, die sich schlangengleich um einen Christbaum im Eck der Hütte wand. Ihre Bitten um „mehr Licht“ verhallten allerdings ungehört. Hätte sie ihre Bitte mit mehr Nachdruck geäußert, hätte der junge Mann an der Bar oder der Veranstalter ihr eine Lampe zur Seite gestellt und wäre ihr Gesicht deshalb nicht so im Schatten gewesen…… hätte, hätte, hätte.

So nahmen die Dinge an jenem 13. Dezember ungehindert ihren fatalen Lauf. 

Senta hatte zur größten Freude ihrer Zuhörerschaft nach Andersens Märchen vom Christbaum gerade damit begonnen, aus der „Schneekönigin“ zu lesen, als ein leises aber deutliches Sirren die Stille zerriss. Senta spürte nur einen Stich im Herzen, dann war sie tot. In dem allgemeinen Durcheinander entkam der Blasrohschütze – oder war es eine Schützin?

Die umgehend eingeleiteten polizeilichen Ermittlungen gingen zunächst nur schleppend voran. Bis der Fall – wohl aufgrund seiner offenbaren Aussichtslosigkeit – Kommissar Schaller und seinem Team übertragen wurde. Wie nicht anders zu erwarten, kam Schaller mit seinen unkonventionellen Ermittlungsmethoden zu einer für die Öffentlichkeit überraschenden aber dennoch richtigen Lösung. Um den Minikrimi nicht über Mitternacht hinaus auszudehnen, sei hier nur das Ergebnis notiert:

Senta Möbius war am falschen Tag am falschen Ort, bzw. in der falschen Rolle gewesen. Eine frühere Schülerin des von Hedwig von Stetten geleiteten Internats hatte die Veranstaltungs-Plakate gesehen. Das Porträt ihrer Peinigerin, die jahrzehntelang der Misshandlung unzähliger Schülerinnen in Form von physischer und psychischer Gewalt Vorschub geleistet hatte, hatte ihre aufgestaute Wut entfesselt. Das Blasrohr gehörte ihr – Blasrohrschießen ist in bayerischen Schützenvereinen ein durchaus gängiger Sport. Die in langen Jahren verblasste Erinnerung und das schlechte Licht hatten dazu gefürt, dass die Täterin Senta für Hedwig gehalten hatte.

Zwei Opfer, zwei Täterinnen. Aber nur eine kam vor Gericht. Die andere war indes ins Ausland entkommen.

Adventskalender Minikrimi am 5. Dezember


Keine Wahl

Sie ist wach, lange, bevor der Wecker klingelt. Früher hat sie sich nach dem ersten „Kikerikiiii“ nochmal tief in die Daunen geschmiegt, und wenn Mami um sieben mit einer Tasse Kakao ins Zimmer kam und gut gelaunt rief „Sofia, aufstehen, der Morgen lacht!“, lugte nur die Nasenspitze aus der Decke hervor. Früher. Da hatte Sofia nie verstanden, wie Mami es schaffte, immer gut drauf zu sein. Sogar, wenn es draußen noch dunkel war, oder wenn sie einen tierisch ekligen Tag vor sich hatte, mit lauter unangenehmen Meetings und so. Jetzt kommt Mami morgens nie in ihr Zimmer, sondern liegt in unruhigem Medikamentenschlaf bis mittags im Bett.

Sofia schält sich aus der Decke – die Daunen sind in der Waschmaschine verklebt und hängen in Klumpen im Bettbezug. „Aufstehen, Simon, der Morgen lacht“, flüstert sie ihrem kleinen Bruder ins Ohr. Eigentlich nervt es sie, dass er in ihrem Bett schläft, aber jetzt im Winter wärmen sie sich so wenigstens gegenseitig. Und Simon braucht alle Wärme, die er kriegen kann, denkt Sofia. Zärtlich streicht sie ihm das schlaffeuchte Haar aus der Stirn. Blonde Locken, wie Papa. Papa. Sofia schluckt etwas herunter, was wie Tränen schmeckt. Aber sowas kann sie sich nicht leisten. Nicht mehr. Sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

Sofia ist erst dreizehn, doch seit ihr Vater vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist – „hit and run“ – heißt das in Amerika, ist sie es, die den Familienalltag am Laufen hält. So gut sie es eben kann. Die Mutter ist chronisch depressiv, zu Zeiten sogar suizidal. Wenn du kein Einkommen hast und keines verdienen kannst, geht der soziale Abstieg ganz schnell. Vaters Geld war in einem halben Jahr verbraucht. Haus und Möbel wurden versteigert, dann der Umzug in die Sozialwohnung.

Sofia hatte kein Problem damit, in eine neue Schule zu gehen, eine Gesamtschule, was anderes gibt es nicht in der Nähe. Die Freundschaften aus dem Mädchengymnasium hatte sie da bereits hinter sich gelassen. Du wirst uninteressant, wenn du nichts mitmachen kannst. Kein Shopping, keine Clubs, und nach den Ferien hast du keine Urlaubsabenteuer zu berichten, weder von den Seychellen noch vom Sprachkurs in England. Nein. Ganz so stimmte das nicht. Es gab da schon ein paar Mädchen, die nicht so waren. Die gerne weiter mit ihr befreundet gewesen wären, weil sie sich mochten. Aber Sofia hatte einen Schlussstrich unter ihr altes Leben gezogen. Und alle und alles hinter sich gelassen. Außerdem hat sie gar keine Zeit mehr für Freundschaften.

Schließlich muss sie sich nicht nur um Simon kümmern, sondern auch um ihre Mutter. „Mami, Simon braucht neue Schuhe“, hat sie erst gestern gesagt und versucht, die dicke Mauer aus Tabletten und Gleichgültigkeit zu durchdringen. „Mir geht’s grade nicht so gut, frag Papa“, war die Antwort.

Frag Papa. Was würde er machen? Er würde sich kümmern, eine Lösung finden. In diesem Fall wohl vor allem: Geld verdienen. Sofia ist dreizehn und geht noch zur Schule! Aber sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

In den letzten Wochen hat sie angefangen, in der Pause mit ein paar Typen aus ihrer Klasse rumzuhängen. Eigentlich, nachdem Mandy, sowas wie die Anführerin der Mädchen, versucht hatte, sie fertig zu machen. „Du glaubst wohl, du bist was besseres?“ „Du wohnst in genau so ner dreckigen Sozialwohnung wie wir, ich hab dich heimgehen sehen, du Lauch. Du Bitch, du bist so wack….“ Sofia hatte zwar nicht den Wortlaut verstanden, aber wohl die Absicht. Früher, da hatte Papa sie zum Muay Thai-Training gefahren („Ich fände Ballett ja besser, aber vielleicht musst du dich mal verteidigen können“). Genau. danke Papa. Mandy war zu Boden gegangen. Und Sofia hatte eine neue Clique.

Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber die Bewunderung der Jungs tat ihr gut. Sie lernte, Zigaretten zu drehen und Shisha zu rauchen. Eines Tages schenkte ihr Ben einen Minirock aus Kunstleder und sagte: „Den hab ich für Dich gefunden. Mach dich schön, wir gehen zu ner Party, die is lit af.“ Sofia verstand, dass sie nicht nein sagen konnte. Schweren Herzens löste sie ein mini Stück von Mamis Schlaftabletten in Simons Saft auf, legte ihn ins Bett und ging. Ben hatte nicht zu viel versprochen. Die Party war „echt cool“, wie Sofia sich ausdrückte. Es gab Bier und Wodka und Red Bull und Tabletten. Alles umsonst. Zum ersten Mal nach Papas Tod fühlte sie sich frei. Und gut.

Das ist jetzt vier Wochen her. Inzwischen hat sie kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie Simon die aufgelösten Schlaftabletten gibt. Der Kindergärtnerin hat sie gesagt, er hätte eine verschleppte Erkältung und sei deshalb tagsüber so teilnahmslos. Die Schule bringt sie irgendwie hinter sich. Sie ist immer noch besser als der Rest der Klasse, auch, wenn sie nicht lernt und keine Hausaufgaben macht. Der Lehrer lässt sie in Ruhe, denn sie hebt den Durchschnitt. Mandy macht einen Bogen um sie. Sie gilt als Bens Girlfriend. Er kauft ihr Klamotten, was zu essen, genug für sie und Mami und Simon, am Abend die Drinks und die Tabletten. Mehr als knutschen war bislang nicht drin, aber Sofia weiß, irgendwann wird sie sich revanchieren müssen.

Irgendwann war vor drei Tagen. „Süße“, hatte Ben ihr ins Ohr geflüstert und dabei immer wieder daran genagt. „Süße, meine kleine Bitch. Es wird Zeit, dass du mir zeigst, wie lieb du mich hast.“ Sofia hatte genug Wodka und Tabletten intus, um ihm als Antwort die Zunge ganz tief in den Hals zu stecken und sich rhythmisch an seinem Köper zu reiben. Aber das war es gar nicht, was Ben wollte. Er schob sie ein Stück von sich weg auf der abgewetzten, fleckigen Kunstledercouch und sagte, plötzlich ganz Businessmann: „Siehst du die drei Betties da drüben? Die sind echt Boyfriend-Material. Aber sie müssen noch auftauen. Mach mal.“ Und er legte ihr ein paar von den blauen Pillen in die Hand. „Nein, mach ich nicht“, hatte Sofia gesagt. Denn sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen. Sie zieht andere nicht mit runter.

Erstaunlicherweise hatte Ben sie nicht gezwungen. Aber am nächsten Tag auf dem Schulhof hat er sie am Arm gepackt und zum Zaun gezogen. Da standen zwei Männer, schwarz gekleidet, solche, die ihr Muay Thai-Trainer immer mit ganz harten Augen weggeschickt hatte. „Süße, wenn du keinen Stoff verticken willst, dann musst du was anderes machen. Ich hab wegen dir so viel Schulden bei den beiden hier gemacht, da musst du jetzt bezahlen helfen….“, sagte Ben.

Sofia hatte sich losgerissen und war in das Schulgebäude gerannt. Hatte ihre Tasche geholt, dem Lehrer gesagt, ihr sei schlecht, und war nach Hause gegangen, immer mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Zuhause hatte Mami Spaghetti gekocht, und sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, es war fast wie früher. „Mami, ich hab da ein Problem“, hatte Sofia begonnen, ihr Herz auszuschütten. Aber ihre Mutter hatte schon wieder versonnen in die Pasta geschaut, nichts gegessen und nur abwesend gemurmelt: „Schatz, frag Papa.“

Als sie Simon vom Kindergarten abholte, fuhr ein schwarzes Auto hinter ihnen her, ganz langsam. In der Wohnung schloss Sofia die Haustür ab, zog die Vorhänge zu und legte sich mit Simon ins Bett.

Gestern Morgen hatte sie in der Schule angerufen und gesagt, „meine Tochter ist krank.“ Das gleiche hatte sie mit dem Kindergarten gemacht. Sie rührte sich nicht aus der Wohnung. Simon protestierte, ihm war langweilig, und den blöden Saft wollte er plötzlich auch nicht mehr trinken. „Der schmeckt so bitter, und dann ist mein Kopf immer soooo schwer.“ Sofia schaute den Schatten zu, wie sie sich über die Wände legten, und den Ameisen, die Simons verschmähtes Marmeladenbrot in unzählige Transportbrocken zerlegten und durch die Küche schleppten, wer weiß wohin.

Gestern Abend, Sofia war grade im Bad, hatte es an der Tür geklingelt, und Simon war schneller gewesen. Als Sofia dazukam, stand Ben da. Nur Ben. Er kam nicht rein, gab ihr ein kleines Päckchen und sagte: morgen holen sie dich ab. Tu, was sie dir sagen. Du hast deinen Bruder doch lieb. „Simon?“ fragte Sofia. „Simon!“ rief sie. Aber Simon war verschwunden.

Später, als sie auf dem Bett saß und ungläubig auf die Waffe starrte, die sie ausgepackt hatte, klingelte ihr Handy. „Hast du es dir überlegt? ja? Dann komm runter. Dein Bruder wartet im Auto. Wenn wir dir erklärt haben, was du zu tun hast, kannst du ihn mit rauf nehmen. Aber wenn du es dir morgen anders überlegst, ist er für immer weg. Wir wissen, wo er spielt….Klar?“

Jetzt bringt Sofia Simon zum Kindergarten. Wie jeden Morgen. Gibt ihm einen Kuss. Wie jeden Morgen. Um die Ecke wartet der schwarze Wagen. Sie steigt ein. Die Männer fahren mit ihr zu einer Garage, dort muss sie die Waffe abfeuern. Zur Übung. Es ist gar nicht schwer. Sie wird aus nächster Nähe schießen und braucht nicht wirklich zu zielen. Sie ist ein großes Mädchen.

Das Auto hält vor einem riesigen Gebäude, Stahl und Glas. Sie steigt aus. In der einen Hand hält sie ein Foto, in der anderen, in einem Beutel versteckt, die entsicherte Waffe. Sie wartet, und als der Mann auf dem Foto die Treppe hinunter kommt, steht sie vor ihm, sagt „Hallo“. Er lächelt sie freundlich an: „Hallo, Kleine!“ Und Sofia drückt ab.

„Nur wenige Minuten nach seinem Freispruch ist „Ali G. das Oberhaupt eines von zwei konkurrierenden Drogenclans, auf den Stufen des Gerichtsgebäudes erschossen worden. Tatverdächtig ist ein Kind, zwölf bis dreizehn Jahre alt. Die Polizei sucht nach dem Mädchen, das allerdings noch nicht strafmündig ist.“

Adventskalender Minikrimi am 2. Dezember


Magie? Oder doch bloß Zauberei?

„Ich habe dir ja immer gesagt, dass du einen Fehler gemacht hast, als du dich mit diesem Magier eingelassen hast! Mephisto! Das sagt doch schon alles. Teuflischer Typ!“

„Uwe ist kein Magier, Mutti. Er ist ein Zauberer.“

„Als ob da ein Unterschied wäre!“

„Und ob. Zauberei ist ein Handwerk, und Uwe ist Handwerker. Er lässt Kaninchen im Zylinder verschwinden und holt stattdessen Seidentücher daraus hervor. Mephisto ist sein Künstlername. Er heißt UWE. Nenn ihn bitte auch so.“

„Ach ja. Nur, dass Max aus UWEs Auto verschwunden ist und er nicht einmal ein Kaninchen auf dem Kindersitz hatte, als er zu Hause ankam. Wo bitte ist dein Kind? Machst du dir gar keine Sorgen?“

„Natürlich mache ich mir Sorgen. Meph – Uwe auch. Aber wenn du ständig auf ihm herumhackst, hilft uns das auch nicht weiter. Lass dir lieber was einfallen, um Max zu finden.“

Mit einem Ruck schiebt Yvonne den Stuhl nach hinten und greift im Aufstehen nach der Zigarettenpackung, die neben einem übervollen Aschenbecher auf dem Küchentisch liegt.

„Hör auf zu rauchen! Man sieht ja schon nicht mehr die Hand vor Augen in diesem Qualm. Wenn Max jetzt heimkommt, kriegt er keine Luft, das weißt du doch!“

„WENN er heimkommt…“ Yvonne zündet die Zigarette an. Ihre Hände zittern, immer wieder geht die Flamme aus. Endlich brennt die Zigarette, sie nimmt einen tiefen Zug und geht durch die Küchentür hinaus in den Garten. Auf und ab, auf und ab. von einer Ecke des schmalen Reihenhauses zur anderen. Beugt sich über den Jägerzaun, bis sie aus den Augenwinkeln die Straße sehen kann. Ein Kind hüpft den Bürgersteig entlang, in der einen Hand eine Schultasche, in der anderen einen Hasen. Einen Hasen? Yvonne reißt das Gartentor auf, ist mit zwei Sätzen auf der Straße. Leer. Kein Kind zu sehen. Sie wirft die Zigarette in den Rinnstein. Ihre Augen brennen, tränenlos. Wo ist Max?

„Wo ist Max? Hast Du ihn gefunden?“, flüstert sie ins Telefon, als Uwe anruft. „Nein, Schatz. Nein. Leider.“

„Dann gehe ich jetzt zur Polizei“, sagt Yvonne.

„Warte noch, Schatz. Vielleicht hat er irgendwas Spannendes gesehen, du weißt ja, wie er ist. Wenn die Polizei erst mal ermittelt, sind immer die Eltern Schuld. Am Ende nehmen sie dir Max sogar weg……Schatz, lass uns noch warten. Bis heute Abend. Ich suche den Park nach ihm ab. Dann den Bahnhof. Du bleibst zu Hause und wartest auf ihn.“

„Gut. Melde Dich.“

In der Küche hat Yvonnes Mutter die Tarotkartenj ausgelegt. „Wenn Mephisto glaubt, dass er der einzige Magier ist, hat er sich verrechnet“, murmelt sie.

„Mutti, lass das! Überleg lieber, warum Max aus dem Auto gestiegen ist. Irgendwas muss er gesehen oder gehört haben.“

„Ich glaube nicht, dass er von alleine ausgestiegen ist. Und die Karten helfen mir dabei, ihn zu finden.“ Während sie spricht, dreht sie die Karten um, eine nach der anderen. „So. Ja, klar. Der Hierophant. Der Narr. Der Magier. Und jetzt..:“ Sie lässt die letzte Karte fallen, als habe sie sich verbrannt. „Nein.“

„Mutti? Hör endlich auf damit. Mutti? Was ist?“

Yvonnes Mutter starrt auf den Küchentisch. Auf dem blanken Holz liegt die  13. Karte. Der Tod.

Ohne nachzudenken greift Yvonne zum Telefon. Die Polizei nimmt ihren Anruf ernst. Die Suche nach dem 7-jährigen Max wird umgehend eingeleitet. Sie finden das Kind schließlich im ICE von Frankfurt nach Paris in einem Koffer mit doppeltem Boden. Erstickt. Der Koffer gehört Uwe Reber, Künstlername Mephisto. Reber lässt sich ohne Gegenwehr festnehmen und gesteht sofort, schuld am Tod seines Stiefsohnes zu sein.

„Es war ein Unfall. Max träumte davon, ein großer Zauberer zu werden. Ich sollte ihm immer Tricks beibringen. Wenn eine Schulstunde ausfiel, rief er mich an, ich holte ihn ab und wir fuhren in meinen Probenraum, um zu „üben“. Wie heute. Er wollte unbedingt den Trick mit dem doppelten Boden ausprobieren. Also habe ich ihn da „verschwinden“ lassen. Natürlich wollte ich ihn gleich wieder rausholen. Aber dann stand plötzlich Yvonne in der Tür. Sie war „zufällig“ vorbeigekommen und wollte die Zeit, bis ich Max von der Schule abholen sollte, mit mir allein genießen, ohne Kind, ohne Oma…

Als sie gegangen war, befreite ich Max sofort aus dem Koffer. Es war zu spät!“

Adventskalender MiniKrimi vom 9. Dezember 2018


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Ihr Liebhaber gepflegter Adventskriminalistik: heute mal was Preisgekröntes. Mit dieser explosiven Adventstragödie habe ich mal den Krimipreis Goldbroiler gewonnen. Viel „Spaß“ beim Lesen….

Der Tod eines Traums. Adventstragödie in vier Akten.

1.

„Dicke rote Kerzen, Tannenzapfenduft..“ „Marie, leise, Papa schläft. War so viel los in der Schule!“. Sie legte sich aufs Bett, stöpselte das Lied ins Ohr. Die Wohnung duftete nach Zimt und Plätzchen. Marie liebte den Advent, die gemütliche Heimlichzeit.

Sieht aus wie eine dicke rote Kerze. Passt perfekt in den Adventskranz.  Keiner bemerkt, wer sich vor dem Blumenladen eine Zigarette anzündet und den Docht dazu.  Jetzt schnell weg und weiter, ein sichtlich unsichtbarer Schatten in der Menge wogender Mäntel. Der Kirchturm wird zum Logenplatz, die Straße zur Arena. Ein Knall, klirrendes Glas von zerberstenden Scheiben. Schreie. Schreie und Blut.

2.

„…Man begegnet hin und wieder schon dem Nikolaus“ Er hatte immer was Süßes im Sack. Anziehend und unheimlich zugleich. Ein geheimnisvoller Fremder. Bis er ihr zu nahe kam.

Bunt und laut und weihnachtsdurstig wimmelt die Samstagsmenge in der jubelbeschallten Einkaufsmeile. Alle freuen sich und viele nehmen gern den Glühwein, den ihnen der dick vermummte Nikolaus freundlich lächelnd anbietet. Sie kommen nicht weit. Rattengift wirkt schnell.

3.

„Lieb verpackte Päckchen, überall versteckt“. Am letzten Schultag wurde gewichtelt. Marie hatte Jo ein Schokoherz gekauft. Und er? Als sie ihr Päckchen auspackte, grölte die ganze Klasse. Ein kaputter Vibrator für „Lehrers Liebling“!

Am letzten Schultag strömen alle in die Aula. Neunhundert Schüler bestaunen die Riesentanne mit den Paketen für arme Kinder darunter. Halleluja singt der Chor der Ehemaligen. Ritual und Tradition. Diesmal mit Feuerwerk. Ein Handy klingelt, und schon wirbeln Sänger, Äste, Kerzen durch die Luft. Wie vorgezogenes Silvester.

4.

„Alte Lieder, Dunkelheit, Bald ist es so weit!“ Es war so einfach. Internet sei Dank. Erst der Flirt, dann die Kalaschnikow. Ein volles Magazin. Drei Treppen und ein Flur. „Schöne Bescherung, Papa, jetzt ist Schluss mit Weihnachtsmann“, und sie entsichert die Waffe.