Diesmal wieder ein MiniKrimi aus der Siedlung an der Minervastraße. Eat the rich oder – Armut ist immer relativ. Kriminelles Lesevergnügen wünschen wir. Und Achtung: Nachahmung wird strikt untersagt…
Robin Hoods Erbin
Die Siedlung an der Minervastraße hat alles, was das Herz von wohlbetuchten Münchner*innen begehrt: zentral und doch mitten im Grünen, elegant im neoklassizistischen Stil und dabei mit allen Modcons, die ein luxuriöses Leben bietet, von Fußbodenheizung und dezent versteckten Aufzügen bis hin zur geräumigen Tiefgarage, in der auch ungeübte SUV-Fahrer ohne Schrammen einparken können. Mäandernde Wege führen durch einen gepflegten Park zu einem kleinen Teich, und wenn man vom Steg in die umsäumenden Tannen blickt, liegt nichts ferner als die – richtige – Vermutung, dass das Ganze erst vor ein paar Jahren angelegt wurde. Wie die Siedlung, so haben auch Park und See eine verwunschene Patina, die zum Träumen einlädt – komplett mit einer im letzten Winter dort versenkten Leiche. Romantik pur, eben.
Dr. Lukas Wentzel, 66, ist kein Romantiker. Aber seine Frau Sofia und seine Töchter Lina und Rita hatten sich sofort in das Anwesen verliebt, und als die opulente 5-Zimmer-Dachterrassenwohnung frei wurde, gab er den Bitten seiner Familie nach und kaufte sich in die Siedlung ein. Zu einem schwindelerregenden Preis. Aber als Zahnarzt mit einer renommierten Praxis im Herzen der bayerischen Landeshauptstadt war er nicht nur ein gern gesehenes Aushängeschild der Siedlung. Dank seiner souveränen Art und der herzlichen Überzeugungskraft seiner „Mädels“, wie er Frau und Töchter nannte, gewann er auch bald eine Reihe zahlungsfreudiger Patient*innen hinzu. Und um der Wahrheit Genüge zu tun, muss gesagt werden, dass Wentzel ein Meister seines Faches ist. Was immer sich seine Patient*innen wünschen – er erfüllt selbst die kühnsten gebisstechnischen Träume: ein blendendweißes Bleaching für das 30-jährige Plus-Size-Model, eine Komplettsanierung ausgeschlagener Ruinen für den Ex-Boxer auf Freiersfüßen, aber auch eine Vollprothese, mit der Frau von Westphal endlich wieder mit ihren Freundinnen in aller Öffentlichkeit Sachertorte essen kann, ohne dass die Zähne in der Konfitüre kleben bleiben. Voraussetzung für seine Behandlung ist natürlich die absolute Bonität der Patient*innen. Denn Wentzel überlässt nichts dem Zufall, weder in der Behandlung noch bei der Abrechnung.
Um sein Leben und den in nächster Zukunft geplanten Ruhestand gepolstert zu finanzieren, hat er jahrelang vertrauensvoll in einen seriösen ärztlichen Pensionsfonds eingezahlt. Er hält nichts von windigen Investitionen und riskanten Aktienkäufen und geht lieber auf Nummer sicher.
So dachte er, so plante er. Bis die Wirklichkeit ihn in Form eines harmlos im Briefkasten ruhenden grauen Umschlags einholt. „Aufgrund unvorhersehbarer weltpolitisch bedingter Schwankungen hat der Fonds leider einen erheblichen Teil seiner Investitionen eingebüßt (……). Wir bedauern außerordentlich, ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihre Rentenansprüche um bis zu 62% reduzieren müssen.“
„WAS?“ Wentzel schwankt, Nebel vor seinen Augen, Treibsand statt Parkett unter seinen Füßen. „Lukas? LUKAS!“ Seine Frau kommt durch die Tür, streckt beide Hände nach ihm aus und hält ihn fest. Zusammen gleiten sie zu Boden. Dort kauert Wentzel eine kleine Ewigkeit, Kopf auf den Knien, unfähig, auch nur ein Wort der Erklärung von sich zu geben.
„Diese Idioten. Wie kann man nur so dumm sein?“ Dann: „Nein, das ist unmöglich. Da steckt ein Plan dahinter.“ Schließlich: „Diese Verbrecher. Haben sich auf unsere Kosten bereichert.“ Endlich: „Na warte. Das werdet ihr büßen. Aber sowas von!“
Seine Pläne. Seine Zukunft. Nicht nur seine. Auch die seiner Frau. Und seiner Töchter. Auslandsstudium. Startkapital für die eigene kleine Firma. Alles weg. Pulverisiert durch eine falsche, ach was, eine kriminelle Investitionspolitik von einer Handvoll selbstgerechter Fondsmanager. Es ist ausgeschlossen, erkennt Wentzel, dass Prof. Dr. Viktor Hesemann, Vorstandsvorsitzender des Ärztlichen Pensionsfonds und Mediziner, in völliger Ahnungslosigkeit sein, Wentzels, Leben und das von wer weiß wie vielen anderen Gutgläubigen ruiniert hat. Nein, das alles ist ein bis ins Kleinste geplanter Komplott, aus dem Hesemann mit mehrfach siebenstelligen Gewinnen und einer reinweißen Weste hervorgeht.
Er hat schließlich „nur beraten“, „nur ausgeführt“, „nur die Risiken falsch eingeschätzt“.
Und jetzt? „Wir müssen die Wohnung verkaufen. Sofort. Die Mädchen müssen sich ihr Studium selbst finanzieren. Das Wohnmobil setze ich gleich ins Internet.“ Wentzels Frau schaut ihren Mann an. Schweigend.
Dann sagt sie: „Gib mir mal alle Unterlagen, alles, was du vom Fonds hast. Und vom Vorstand.“
„Und dann?“
„Dann sehen wir weiter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die damit so ohne weiteres durchkommen.“
„Doch. Tun sie. Weil wir alle zu blöd waren, zu vertrauensselig. Weil wir ihnen Carte Blanche gegeben haben. Auf eine externe Wirtschaftsprüfung verzichtet haben. Aus Kostengründen. HAHA!“
Sofia vergräbt sich mit den Unterlagen im gemeinsamen Arbeitszimmer. Die Stunden vergehen. Irgendwann hält Wentzel es nicht mehr aus. Er kocht einen Tee – grün, im Beutel, um sich schon mal in Armut zu üben – und klopft. „Komm rein“, ruft Sofia.
„Und?“, fragt er.
„Hesemann hat tatsächlich an alles gedacht. Den kriegen wir nicht dran.“
„Dann kontaktiere ich am besten gleich einen Makler. Aber keinen von hier. Ich will nicht, dass die Leute mitkriegen, dass wir demnächst pleite sind. Meine Patienten! Ich hab‘ allen erzählt, dass ich spätestens in zwei Jahren in Rente gehe. Jetzt muss ich arbeiten, solange Augen und Bandscheibe mitmachen.“ Müde und mutlos lehnt Wentzel sich an die Wand.
„Also deine Patienten werden sich freuen, vor allem die Patientinnen“, lacht Sofia. „Schau mich nicht so bissig an. Um so höher du stehst, desto tiefer fällst du. Aber zum Glück hast du ja noch mich.“
„Mit deinen paar IT-Kunden wirst du uns kaum ernähren können“, murmelt Wentzel.
„Vielleicht nicht. Stimmt. Aber wer weiß – vielleicht doch. Ich habe da nämlich eine Idee. Allerdings nur unter einer Bedingung. Du musst herausfinden, welche deiner Kolleg*innen durch den Fonds die meisten Verluste erlitten haben. Also wirklich die, denen es am dreckigsten geht.“
„Warum?“
„Nenn mich Robin Hoods Erbin, Schatz. Und frag nicht weiter. Ich will dein Gewissen nicht unnötig belasten.“
II
„Das ist doch zu schön, um wahr zu sein. Wo ist da der Haken?“ Prof. Dr. Hesemann blättert den Hochglanzprospekt nochmal durch. Von vorne bis hinten. Kein Haken erkennbar. Das aufstrebende Bio Tech-Start Up mit dem wohlklingenden Namen „EnzyValion Therapeutics“ ist klein, innovativ und noch so unbekannt, dass er als early investor satt Profit machen kann. „Toller Tipp von der jungen Kollegin“, denkt Hesemann. Und er weiß, dass er seine Marke perfekt aufgebaut hat: der sichere Investor, risikofreudig, aber nicht blauäugig. Er kann sich nicht an die Frau erinnern, aber wenn die Investition so gut läuft, wie sie klingt, wird er sie nach er der ersten Million zum Essen einladen. Als Einzahlerin in den Ärztefonds wird sie sich das alleine wohl kaum noch leisten können.
Hesemann nimmt sich einen ganzen Tag Zeit, um EnzyValion Therapeutics zu durchleuchten. Google kennt das Start Up. Die Webseite ist clean, mit sympathischen Management-Gesichtern, vorwiegend junge Männer, eine Frau; ein minimalistisches Pitchdeck, ein schmaler Crunchbase-Eintrag („Seed Stage – undisclosed funding“), ein Eintrag in einem Startup-Katalog, eine kleine Liste von Partnern und eine Handvoll Presseartikel. Etwas Präsenz auf LinkedIn, sogar ein paar saubere FB-Profile – alles genau so, wie man es von einem „Early-Stage“-Start Up mit hoher Exklusivität erwartet. Ein halb gefülltes Ökosystem, typisch für Mini-Firmen. Und mit dem Versprechen von großen Gewinnen für ihn.
Am nächsten Tag unterschreibt Hesemann digital und überweist das Geld. Eine schwindelerregende Summe. Für ihn kein Problem, Fonds sei Dank. Um ganz sicher zu gehen, loggt er sich am Anfang stündlich in sein Investor-Dashboard ein. Alles wasserdicht und im leuchtend grünen Bereich: Anteile, Wertentwicklung, Schaubilder, Auszahlungsfunktionen, Transaktionsverlauf.
Als eines Morgens die Steuerfahndung bei ihm klingelt – was Hesemann längst mit einkalkuliert hat – setzt er seinen Escape-Plan um. Oder besser, er will ihn umsetzen. Jetzt nur noch schnell das Geld aus dem Start Up ziehen, und dann ab nach Zypern. Warum in die Ferne schweifen? Mit den richtigen Papieren liegt das Gute doch recht nah.
Doch nach dem Login bleibt der Bildschirm erstmal blank. Also black. Dann blue. Schließlich erscheint eine Anonymus-Maske und sagt: „Wir danken für die großzügige Spende und bitten um Verständnis dafür, dass wir keine Spendenbescheinigung ausstellen können. Wir bedauern außerordentlich, ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihre Investition zu 100% einbehalten mussten.“
Dr. Lukas Wentzel hat keinerlei Einwände, als seine Frau ihm mitteilt, dass das Kapital, das sie für ihn erwirtschaftet hat, exakt dem Betrag entspricht, den er durch den Ärztefonds verloren hat. Der Rest, das weiß er, bewahrt eine Handvoll Kolleg*innen vor dem sicheren Ruin. Und das ist gut so. In Zukunft wird er seine Geschäfte ganz in die Hände seiner Frau Sofia, Robin Hoods Erbin, legen. Auch das ist gut.


