MiniKrimi Adventskalender am 22. Dezember


Rache ist stärker als der Tod

Endlich. Die längste Nacht des Jahres. Genug Zeit und genug Bewegungsfreiheit. Livia schickt dem Ausgrabungsteam, das ihr das Schloss von den Füßen entfernt hat, einen innigen Dankesgedanken. Und die Archäologen haben sie auch umgedreht. Statt bröckeliger Erde sieht Livia nun eine Welt, die sich in 400 Jahren sehr und gleichzeitig kaum verändert hat. Der Friedhof mit dem eingezäunten Bereich, wo neben Livia noch andere Männer, Frauen und Mädchen begraben waren, die von den Dorfbewohnern als Vampire gefürchtet und mit entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen begraben wurden, sieht noch so aus wie damals. Ein kleiner Hügel mit struppigem Gras, fetter Erde und ein paar zerzausten Tannen. Unten sieht man das Dorf, und auch das hat sich von hier oben betrachtet kaum verändert. Niedrige Häuser ducken sich rund um das trutzige Steinkirchlein. Die Straßen bestehen immer noch aus Erde und Sand. Nur um die Kirche herum haben sie den Platz gepflastert. In den Häusern flackert Licht, und überall stehen Masten mit Leitungen. Aus den Schornsteinen quillt Rauch, und es riecht nach Holzfeuer. Livia hat auch nach dieser langen Ruhezeit keine Schwierigkeiten, sich in ihrer Heimat zurechtzufinden.

Sie klettert aus ihrem Grab, sammelt sich und betrachtet in einer Pfütze ihr Gesicht. Ein kleines Mädchen schaut sie an. Mit langen, wirren Haaren und einer vergilbten Kappe bis knapp über den stechend grauen Augen. Ein blasser, zusammengekniffener Mund im bleichen Gesicht. Ihr schwarzes Kleid ist von Würmern durchlöchert, die Schuhe verschimmelt.

Es gibt Schlimmeres. Wie zum Beispiel eine Sechsjährige zu einem Vampir abzustempeln, nur, weil sie ihren Bruder, den ersehnten Stammhalter, aus Eifersucht in den Hals gebissen hat. Livia hat damals ein Gespräch ihrer Eltern belauscht. „Zwei Kinder können wir nicht ernähren und standesgemäß aufziehen. Die Felder haben schon das dritte Jahr in Folge kaum Ernten erbracht, die Bauern können ihre Pacht nicht zahlen. Aber Theo brauchen wir, er wird meine rechte Hand und mein Nachfolger. Also: das Mädchen muss weg“, sagte der Vater.

„Aber wie willst du das anstellen?“, fragte die Mutter. Du kannst sie nicht einfach weggeben oder gar töten. Die Bauern würden das als Grund zum Aufstand nehmen.“

„Du wirst sehen, die Bauern werden die ersten sein, die ihren Tod fordern.“

„Wie das?“

„Ich erzähle im Wirtshaus, natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass ich fürchte, Livia sei zum Vampir geworden. Du erinnerst dich doch an den Tagelöhner, der mir im Sommer mit den Pferden geholfen hat?“

„Ja. Livia mochte ihn sehr. Sie saß abends oft bei ihm, wenn er auf der Mandoline spielte.“

„Genau. Ich sage, dass sie einmal nach Hause kam und zwei rote Flecken am Hals hatte. Und dann erzähle ich, wie sie Theo gebissen hat.“

„Die Bauern haben furchtbare Angst vor Vampiren! Sie werden sie steinigen. Das arme Kind!“

„Soweit lassen wir es nicht kommen. Wir geben ihr einen Trank mit Fingerhut, so dass sie im Schlaf stirbt. Man wird keine Verletzung an ihr finden, und das wird ein weiterer Beweis dafür sein, dass sie ein Vampir ist. Lass die Bauern sie begraben, mit allen nötigen Schutzmaßnahmen, damit sie nicht aus dem Grab aufstehen kann.“

Obwohl Livia vorgewarnt war, hat sie den Kakao getrunken, den ihr ihre Mutter ein paar Wochen später hinstellte. Als besondere Belohnung, weil sie den Bruder nicht mehr gebissen hat.

Dann lief alles so ab, wie der Vater es vorhersehen hatte. Livia starb, wurde begraben – und konnte erst jetzt, 400 Jahre später, ihr kaltes, dunkles Grab verlassen, in dem sie, mit dem Gesicht nach unten, damit sie nur in die Erde und nie wieder in einen Menschen beißen,  und mit einem schweren Schloss an den Füßen, damit sie nicht weglaufen konnte, gefangen war.

Aber jetzt ist sie endlich frei. Heute ist der Tag ihrer Rache.

Sie geht hinunter ins Dorf. Es ist stockdunkel in dieser längsten Nacht des Jahres. Und auch, wenn aus den Fenstern die bunten Bilder der Fernseher flackern und draußen die Straßenlampen ein gespenstisches Licht auf die Häuser werfen – die Angst vor Vampiren und Untoten ist lebendig in diesem kleinen polnischen Dorf, in dem die Neuzeit nur einen dünnen Mantel über Glauben und Bräuche des Mittelalters geworfen hat.

 Der Weg bis zu ihrem Elternhaus ist weit. Aber Livia spürt weder Kälte noch Furcht. Hier steht es, groß und stark hinter dem hohen Eisentor. Das Gutshaus, zu dem das Dorf und alle Ländereien gehören. Sie geht durch das Tor, als sei es nicht verschlossen. Drinnen auf dem gepflasterten Hof sieht es allerdings deutlich anders aus als im übrigen Ort. Große Kutschen stehen dort, aber ohne Kutschbock. Dafür glänzen sie in schwarz und blau. Aus den Ställen dringt Licht und Musik. Scheinbar leben dort jetzt Menschen und kein Vieh mehr.

Sie geht auf das Haupthaus zu. Links neben dem Eingang war der Küchengarten, den Livia besonders liebte. Jetzt hasst sie ihn, denn dort hat ihre Mutter den Fingerhut gepflückt, mit dem sie ihre Tochter getötet hat. Welche Mutter tut so etwas?

Vor der schweren Eichentür steht ein Mann. Groß, mit dunklen Haaren und einem kurzen dunklen Bart. In der einen Hand hält er etwas, das Ähnlichkeit mit den Zigarren hat, die ihr Vater – als einer der ersten in ganz Polen – rauchte. Er spricht in einen kleinen Kasten in seiner rechten Hand. Livia kennt das. Auf dem Friedhof machen das die meisten.

Da schaut der Mann auf und sieht Livia. „Nanu,“ sagt er. „Wo kommst du denn her? Wer bist du?“ Livia versteht seine Sprache, auch, wenn sie etwas anders ist als das Polnisch ihrer Zeit. Der Mann mustert sie. „Du warst wohl auf einer dieser Geisterparties zur Wintersonnenwende? Hast du dich verlaufen?“

Weil Livia nicht weiß, was sie antworten soll, verdreht sie die Augen und lässt sich stocksteif zu Boden fallen.

„Herrje, die Kleine ist ohnmächtig geworden. Ich muss Schluss machen, Oleg.“

Dann hebt der Mann Livia auf und trägt sie ins Haus. In den nächsten Stunden bemühen Andrej, so heißt er, und Olga, seine Frau, sich um das Mädchen. Sie flößen ihr Wasser und dann Brühe ein. Als sie die Augen aufmacht, tragen sie sie ins Badezimmer und legen sie in eine Wanne voll duftendem Schaum. So etwas gab es bei Livias Eltern noch nicht!

Sie schließt die Augen und hört Andrej und Olga flüstern. „Ja, ich weiß, wir sollten sie der Polizei melden. Aber sieh nur, wie sie ausschaut. Als sei sie gerade dem Tod entronnen. Wir kümmern uns erst mal um sie. Wir wollten doch schon immer ein kleines Mädchen haben, oder? Und natürlich schauen wir ins Internet, ob irgendwo ein Kind vermisst wird.“

„Wer lässt seine Tochter schon mitten in der Nacht alleine? Solche Eltern haben das Kind sowieso nicht verdient. Gut. Wir machen das so, wie du vorgeschlagen hast. Und wenn jemand fragt, dann ist sie das jüngste Kind deiner Cousine. Etwas behindert. Das erklärt, warum sie nicht spricht. Sie soll ein paar Monate bei uns auf dem Land bleiben.“

Und so lebt Livia von Stund an bei Olga und Andrej. Mit der Zeit „taut“ sie auf und beginnt sogar, zu sprechen. Ihren Plan, in ihrem Elternhaus zurück in die Vergangenheit zu gehen und sich an ihren Eltern für den Mord an ihr zu rächen, hat sie aufgegeben. Jetzt geht es ihr gut. Endlich. Und hat sie nicht ein Recht darauf, nach 400 Jahren in einem modrigen Grab?

Heute ist es genau ein Jahr her, dass Livia zu Andrej und Olga gekommen ist. Im Dorf haben sie die „Nichte“ schnell akzeptiert. Sie geht sogar zur Schule. Sie trägt die schönste Kleidung, ganz anders und viel bequemer als das, was sie in ihrem ersten Leben anziehen musste.

Sie sitzen beim Abendessen. Der Tisch ist besonders festlich gedeckt – zur Feier des Tages. „Nun bist du schon ein Jahr bei uns, liebe Livia. Du hast uns so glücklich gemacht. Du bist unser Sonnenschein. Olga und ich haben so lange vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen. Und dann standst du auf einmal vor unserer Tür!“

„Ja, du bist unser großes Glück. Und ich bin überzeugt, dass das, was wir dir jetzt gleich erzählen werden, auch nur deshalb passieren konnte, weil du bei uns bist. Schau, Livia, du wirst einen kleinen Bruder bekommen. In einem halben Jahr bist du die große Schwester. Freust du dich?“

Livia starrt Olga und Andrej an. Es ist, als würde ihre Lebensgeschichte noch einmal von vorne beginnen. Sie steht auf, ohne zu bemerken, dass sie dabei den Stuhl umstößt. Sie rennt die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Ihr altes Zimmer. Ihr neues Zimmer mit allem darin, was ein Mädchenherz sich nur wünschen kann. Aber wie lange wird es ihr noch so gut gehen? Livia weiß, was passiert, wenn ein zweites Kind in die Familie kommt.

Doch diesmal ist sie vorgewarnt. Diesmal wird man sie nicht überraschen. Überrumpeln.

Livia lässt sich Zeit. Ein halbes Jahr lang tut sie so, als freue sie sich auf den Nachwuchs. Und als Konstantin dann auf der Welt ist, beobachtet sie ihre neuen Eltern sehr genau. Ja, es ist so, wie sie befürchtet hat. Alles dreht sich plötzlich um den Kleinen. Gut, Andrej fährt sie weiterhin zum Ballett und zum Reiten. Olga liest ihr jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vor. Und sie hat die beiden noch nie dabei belauscht, wie sie Pläne schmieden, um Livia wieder loszuwerden. Aber das bedeutet gar nichts. Sicher hat sie es nur nicht mitbekommen.

Dann, eines Tages, ist es soweit. „Livia, wir müssen für eine Woche nach Frankreich. Arbeit. Konstantin nehmen wir mit. Aber du musst hierbleiben. Du hast Schule, Reiten, Ballett. Olgas Freundin Nadja wird auf dich aufpassen. Und wir sind in einer Woche wieder da und bringen dir was ganz Tolles mit. Was wünscht du dir am meisten? Eine große Mickey Maus? Oder einen Tüllrock?“

Livia schaut die beiden aus ihren großen, stechend grauen Augen an.

Später, als Konstantin seinen Mittagsschlaf hält, schleicht sie zu ihm ins Zimmer. Wie friedlich er da liegt. Ein rosa Gesichtchen, umrahmt von blonden Locken. „Er ist viel schöner als ich“, denkt Livia. „Ich hasse ihn.“

Sie beugt sich zu dem Baby hinunter. Und beißt zu. Kräftig. Das Blut schmeckt süß. Sie kann gar nicht genug davon trinken.

Dann geht sie in ihr Zimmer. Zieht an, was sie trug, als sie aus dem Grab gestiegen ist. Hinauf auf den Hügel, zum Friedhof, in den Teil für Vampire. Sie legt sich in ihr Grab. Mit dem Gesicht nach unten. Das Schloss umschließt ihre Füße. Aber den Schlüssel gräbt sie in die Erde unter sich ein. Sie wird noch ein paar Jahre warten. Jahrhunderte, vielleicht. Und es noch einmal versuchen, mit ihrer Rache.

Konstantin, der offenbar am plötzlichen Kindstod gestorben ist, wie die Eltern sagen, wird auch auf dem Friedhof begraben, nicht allzu weit von Livia entfernt. „Das war bestimmt ein Vampir“, flüstern die Alten. „Habt ihr gesehen, wie blass das Kind war? Und wieso ist das kleine Mädchen so plötzlich verschwunden, gleichzeitig mit dem Tod des Jungen?“ Aber wer hört schon auf sie?

Diese Geschichte ist entstanden, nachdem ich vom Fund eines „Kindervampirs“ in einem polnischen Dorf gelesen habe.  

Mini Bibel Thriller: Die verkaufte Braut


Was bisher geschah
Als Jakob May klar wurde, dass er im Baugeschäft seines Vaters neben dem Bruder immer nur die zweite Geige spielen würde, entschloss er sich, ein Ende mit Schrecken dem berufslebenslangen Schrecken ohne Ende vorzuziehen. Er ließ das malerische Provinzstädtchen seiner behüteten Kindheit und Jugend hinter sich und studierte Jura in München und Oxbridge.

Dort knüpfte er viele Kontakte. Nach dem Studium klapperte er, sein Prädikatsexamen in der Tasche, einen nach dem anderen ab. Bei Michael Silberstein musste er trotz Termin über eine Stunde in einem kühlen, lederbestuhlten Foyer warten. Ihm war heiß, denn er war aufgeregt. Die Kanzlei Silberstein, Silberstein und March war sein wichtigster Anlaufpunkt. Wenn er hier als Junioranwalt einsteigen könnte, wäre sein Zukunft schon so gut wie gesichert. Um nicht abgehetzt anzukommen, hatte er sogar ein erster Klasse Ticket nach Monaco gekauft, in die Silberstein Dependance, in der der Kanzleichef ihn in Augenschein nehmen wollte. Gerade als er dachte, man hätte ihn vergessen, kam eine junge Frau durch die Tür, in der Hand ein Tablett mit einer Flasche und einem Krug mit Wasser – gesprudelt und still – und einem Glas. „Es dauert leider noch ein bisschen. Bedienen Sie sich inzwischen.“ Und mit einem Lächeln drehte sie sich um und ging.

Dieses Lächeln war es, das Jakob seitdem nicht mehr losgelassen hat. Er hatte sich vorgenommen, sie als seine Sekretärin zu bekommen, sollte er bei Silberstein anfangen. Als er endlich zum Vorstellungsgespräch gebeten wurde, saß sie ihm gegenüber hinter dem monumentalen Schreibtisch. Ihr Vater musste kurzfristig weg. Sie sei seine Stellvertreterin in der Kanzlei.

Jakob bekam den Job – obwohl oder vielleicht weil – er vor Aufregung stotterte und immer nur in diese unglaublichen blaugrauen Augen starrte. Sobald er Michael Silberstein das erste Mal begegnete, erklärte er ihm, dass er beabsichtige, seine Tochter Rachel zu heiraten.

Silberstein war weder erbost noch belustigt. Er musterte Jakob vielmehr eingehend. Und bot ihm einen Deal an. Zwei Jahre lang sollte er sich in alle Bereiche der Kanzlei einarbeiten. Erfolgreich. Dann würde Silberstein ihm seine Tochter Rachel zu Frau geben. Jakob war so verrückt nach dem Mädchen, dass er sich nie die Frage stellte, ob sie ihn denn auch haben wollte. Es bot sich ihm allerdings auch keine Gelegenheit mehr dazu. Denn unmittelbar nach dem Deal reiste Rachel nach Japan, um die dortigen Filialen der Kanzlei zu betreuen und auszubauen.

Was jetzt geschieht
Jakob May hat es geschafft. In zwei Jahren hat er sich in der Kanzlei alle Meriten erworben, die ihn zu einem unverzichtbaren Partner gemacht haben. Hat alle Büros in Europa und den USA bereist. Wichtige Verfahren gewonnen. Sich einen Namen als versierter und beschlagener Jurist gemacht. Er steht jetzt ganz vorne in der Rehe der Anwärter auf die Nachfolge als Chef des Rechtsimperiums. Er hat Einblick in alle Geschäftsbereiche erhalten, in alle Akten und Fälle. Die legalen. Und die illegalen. Er ist jetzt ein Geheimnisträger. Aber nur, wenn er dabeibleibt und schweigt, ist Rachel ihm sicher

Auf den Tag genau zwei Jahre, nachdem Jakob den Einstiegsvertrag unterschrieben hat, bittet Silberstein ihn in die Dependance der Kanzlei Silberstein, Silberstein, March und May in Monaco. Das Allerheiligste, in dem Rachel ihm damals auf den Zahn gefühlt hat. Beruflich – aber auch privat, davon ist Jakob inzwischen fest überzeugt. Denn es ist völlig unmöglich, dass der Deal um ihre Hand ganz ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung zustande gekommen ist Aber warum ist sie ihm seitdem so konsequent aus dem Weg gegangen ist? Diese Frage hat Jakob sich jede Nacht gestellt, wenn er ihr Gesicht heraufbeschwor. Die zarte Elfenbeinhaut. Die glänzenden, zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebundenen Haare. Die großen, leicht schrägen blaugrauen Augen. Die gerade Nase. Den schmalen, ganz sanft geschwungenen Mund, die weißen Zähne. Rachel war groß, aber zierlich, ohne üppige Rundungen. Eher androgyn. Ihre Stimme war ein melodiöser Alt.

Auf dem Weg zu Silbersteins Büro, nur vier Türen entfernt von seinem eigenen, auf der Chefetage, meint Jakob einen Schatten zu sehen, einen Duft zu erhaschen, der ihn an Rachel erinnert, als er sie zum ersten und fast einzigen Mal gesehen hat. Ein Hauch von grünem Tee, ein graues Kostüm, ein Wehen schwarzer Haare.

„Ist Rachel zurück?“, fragt Jakob den Mann, der morgen um diese Zeit sein Schwiegervater sein wird. „Ich habe sie noch nicht gesehen“, antwortet Silberstein. Du wirst dich bis morgen gedulden müssen, mein Lieber. Nur noch wenige Stunden, dann hat das Warten ein Ende. Freust du dich?“ „Ja.“ Jakobs Antwort ist knapp, fast schroff. Langsam wird ihm diese Heimlichtuerei zu bunt. Warum darf er die Frau, mit der er sein Leben teilen wird, erst im Moment der Trauung sehen? Was soll das? Will Silberstein ihn übers Ohr hauen? Aber womit? Eine Hochzeit kann man schließlich nicht faken. Schon allein wegen der vielen geladenen Gäste, darunter reichlich internationale Geschäftsprominenz.

Die Trauung wird auf Silbersteins Yacht stattfinden, im engsten Kreis. Danach geht‘s zur Party im Hotel de Paris. Derweil rauscht das frisch vermählte Paar auf der Yacht nach Antibes, um sich auf die Flitterwochen m Luxus-Compound auf Bali vorzubereiten.

Jakob ist sehr nervös. Seine Eltern sind aus ihrem Rentnerdomizil in Spanien angereist, der Bruder hat für 24 Stunden die Firma verlassen und spielt den „Best man“ (Trauzeuge).  Es ist zehn Uhr. Um punkt zwölf soll er mit Rachel getraut werden, aber er hat die Braut noch immer nicht gesehen. Dafür fließt der Champagner schon seit dem Frühstück. Die erste Flasche kam als Präsent des Hauses mit Croissants und Café au lait. Die zweite brachte sein Bruder mit. Die dritte sein Assistent, der auf Geheiß von Slberstein Senior nach dem Rechten schauen und darauf achten soll, dass Jakob nicht im letzten Moment die Flucht ergriff. Von wegen! Jakob dachte gar nicht daran. Er denkt überhaupt nur eins: an den Moment, wenn er Rachel endlich für immer in seinen Armen halten wird.

Auf dem Weg zum Aufzug fragt Jakob sich kurz, ob sie etwa schon auf der Yacht sind. Der Boden schwankt leicht unter seinen Füßen. Oder war das etwa ein Erdbeben? Ein Seebeben? „Alles beschtens, das isch höschtensch der Schampus“, beruhigt ihn sein Bruder. Und „Das geht allen Bräutigamen so, das ist die Aufregung“, doziert der Assistent, der, soweit Jakob weiß, noch nie auf einer Hochzeit gewesen ist, und auch nicht auf seiner eigenen.

Vor der Yacht ist ein roter Teppich ausgebreitet, und unzählige gut gelaunte, elegant gekleidete und „absurd behütete“, ihm zumeist völlig unbekannte Menschen stehen Spalier und begrüßen den Bräutigam mit Willkommensrufen, Applaus – und noch mehr Champagner. Noch bevor er das Deck betritt, hält er schon wieder ein volles Glas in der Hand. Wenigstens ist er vom Feinsten. Da kann mir eigentlich nichts passieren, denkt Jakob. Und bald hält Rachel mich fest. Dann ist sowieso alles gut.

Auf Deck gilt es, Hände zu schütteln, Küsschen zu verteilen, Nichtigkeiten zu wechseln. Er erkennt einige Klienten. Kollegen mit Familien. Seine Verwandtschaft ist überschaubar und hält sich zurück, um nicht aufzufallen. Seine Eltern strahlen. Stolz auf den Jüngsten, der das große Los gezogen hat. Fast so, als hätte er nicht Jahre harter Arbeit investiert, um an dieses Ziel zu kommen. Das Studium. Das Ackern über Akten. Vor allem auch – zu lernen, dass Recht haben nicht gleich Recht bekommen ist. Dass es ihm immer gelingen muss, seinen Klienten zum Sieg zu verhelfen. Auch, wenn das ungerecht ist. Oder ungesetzlich. Jakob runzelt die Stirn. Solche Gedanken passen so gar nicht zu diesem herrlichen Tag. Und doch kann er sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass genau dieser Lernprozess ihn bis hierhin gebracht hat. Aus den Augenwinkeln betrachtet er Silberstein Senior, wie er sich zwischen den Gästen bewegt, hier ein Schulterklopfen, dort eine kurze Umarmung, und immer wieder ein Nicken, ein Zeigen mit der Hand in seine, in Jakobs Richtung. Die Zukunft ist gesichert. Die Jakobs, aber auch die der Kanzlei. Und der Klienten. Keine Sorge! Wir haben alles im Griff.

Wo Rachel nur bleibt. Wenn sein bester Freund ihm erzählt hätte, dass er im Begriff sei, eine Frau zu heiraten, die er nur zweimal ganz kurz gesehen und kaum gesprochen hat, von der er nicht einmal weiß, ob sie ihn mag, geschweige denn liebt – er hätte einen Lachanfall bekommen und seinen Freund für verrückt erklärt. Aber dann fällt Jakob ein, dass er gar keine Freunde mehr hat. Nur noch Kollegen.

Die Schiffsglocke ertönt, und ein Mensch in dunklem Blau mit dem dreifarbigen Band der Schalflagge betritt die Yacht. Nickt nach links und recht und geht schließlich mit ausgestreckter Hand auf Michael Silberstein zu. Die beiden Männer begrüßen sich, Köpfe eng zusammengesteckt. Dann winkt Silberstein: „Jakob, der Bürgermeister ist da. Die Zeremonie kann beginnen.“

Inzwischen ist es schon halb eins. Von Rachel noch immer keine Spur. Felicitations, mon ami, sagt der Bürgermeister und drückt ihm ein Glas Champagner in die Hand. Sie stoßen an, und Jakob stürzt es hinunter. Er schwitzt. Die vor zwei Stunden frisch frisierten Haare kleben an seiner Stirn. Sicher hat er Schweißränder unter den Achseln. Außerdem schwanken die Planken unter ihm bedenklich. Ihm ist nun schon beinahe alles egal.  Wenn Rachel nicht mehr auftaucht – dann hat sie eben Pech gehabt. Oder er.

So langsam wird auch Silberstein senior unruhig. Immer wieder schaut er auf die Armbanduhr. Er gibt der Combo unter Deck ein Zeichen, und sie spielen sanfte Lounge Musik.

Um 13 Uhr kommt Bewegung in die Menge. „Die Braut, die Braut.“ Immer mehr Stimmen, immer lautere Rufe. Michael Silberstein springt von Bord, seiner weiß verhüllten Tochter entgegen. An seinem Arm schreitet sie den roten Teppich entlang, die Gangway hinauf und zum Trautisch, vor dem der Bürgermeister und Jakob warten.

Die Trauung erlebt Jakob wie im Nebel. Sein Bruder muss ihn anstoßen, damit er die Ringe nimmt. Auf die Frage des Bürgermeisters krächzt er ein heiseres „Ja, ich will.“ Auch Rachel scheint aufgeregt zu sein, denn ihre Antwort ist kaum mehr als ein gehauchtes Flüstern. Schließlich hebt er den Schleier und sieht ihr, das erste Mail seit 2 Jahren, in die großen, graublauen Augen. Ist es die Aufregung, oder kommt es ihm nur so vor, als habe sie einen leichten Silberblick? Aber der Kuss! Während Jakob ihre Lippen nur zart berührt, presst sie die ihren fest auf seinen Mund, und zu seiner maßlosen Überraschung schiebt sie ihre Zunge dazwischen, kühl und fordernd. Jakob ist überrascht. Und beruhigt. Sie will ihn, das ist klar. Alles ist gut!

Nach den schier endlosen Ansprachen von Bürgermeister, Eltern, Kolleginnen und Kollegen schieben sich Jakob und seine Frau durch eine nicht enden wollende Schar von Gratulanten. Küsschen links und rechts und links. Und – natürlich – Champagner. In Strömen.

Irgendwann gehen auch die letzten Gäste von Bord. „Auf euer langes, glückliches Eheleben, meine Kinder. Wie schön, Rachel, dass du dich dafür entschieden hast, ab jetzt nur noch für die Familie da zu sein und das Arbeiten deinem Mann zu überlassen!“ Das hört Jakob zum ersten Mal. Aber es macht ihm nichts aus. Im Gegenteil. Rachel will ihr gemeinsames Nest bauen. Wie romantisch. Michael Silberstein nimmt die frisch Vermählten in die Arme. Er sieht zufrieden aus. Mehr noch. Erleichtert. „Genießt eure Flitterwochen. Macht das allerbeste daraus“, flüstert er ihnen ins Ohr, bevor auch er die Yacht verlässt.

Am nächsten Morgen wacht Jakob völlig verkatert auf. Er hat Mühe, sich zurechtzufinden. Wo ist er? Und wer ist die Frau neben ihm im zerwühlten Bett? Langsam und in einzelnen Puzzleteilen kommt die Erinnerung. Aber es sind zu viele Eindrücke, zu schnell hintereinander. Er schließt die Augen. Öffnet sie, weil sich alles um ihn herum dreht. „Hier, Liebling, trink. Das wird dir ganz schnell helfen.“ Eine sanfte, helle Stimme. Freundlich herb. Sopran, eindeutig. Jakob zwingt sich, wach zu bleiben. Um sich zu schauen. Vor ihm steht eine junge Frau mit schwarzen Locken. Eine zartes Neglige umspielt ihre Rundungen. Ihr voller Mund nähert sich seiner Stirn. Mechanisch nimmt er die Farbe ihrer Augen wahr. Strahlend blau. Nur eines blickt in seine Richtung. Das andere geistert umher, als hätte es seinen Kompass verloren. „Oh“, erschrickt sie, stellt die Espressotasse ab und setzt sich an den Schminktisch.  Sucht und findet etwas, und als sie sich umdreht, sind ihre Augen wieder graublau, und der Silberblick nur angedeutet.

Kontaktlinsen. Jetzt fällt ihm auch auf, dass sie kleiner ist, als er seine Rachel in Erinnerung hatte. Weicher. Nicht so knabenhaft, sondern weiblich. Können zwei Jahre sie so verändert haben? Oder war sein Bild von ihr so verzerrt? Dann fällt ihm ein, wo er diesen Körper schon mal gesehen hat, diese Stimme gehört. Bei einem seiner seltenen Besuche im Hause Silberstein. Flüchtig begrüßt und schnell verschwunden, ein Termin, leider. Wie hieß sie gleich?

„Wer bist du? Du bist nicht Rachel!“

„Was? Jakob, bist du noch betrunken? Natürlich bin ich es. Rachel. Deine Frau! Die ganze Nacht hast du mich so genannt. Und jetzt fragst du mich, wer ich bin?“

„Die Nacht war dunkel. Und außerdem sind da alle Katzen grau. Versuch nicht, mich anzulügen. Wer bist du? Was machst du hier? Und wo ist Rachel? Was hast du mit ihr gemacht?“

Jakob spürt, wie die Wut in ihm aufsteigt. Heiß. Unbezähmbar. Zwei lange Jahre hat er auf diesen Moment hingewartet. Hat seine Energie kanalisiert. Prozesse gewonnen für Menschen, die er vor Beginn seiner Karriere hinter Gitter hätte bringen wollen. Hat seine Grundsätze über Bord geworfen. Der Liebe wegen. Heute ist er nicht mehr der Jakob, den er vor zwei Jahren morgens im Spiegel angrinste. Der sich darauf freute, den Tag zu erleben, zu prägen und in seinem kleinen, sehr überschaubaren Rahmen besser zu machen. Heute ist er ein korrupter Jurist von seines Schwiegervaters Gnaden. Ja, die Verwandlung ist  nicht über Nacht geschehen. Er ist kein Gregor Samsa. Er hat sich ganz bewusst in diese neue Form gepresst. Der Liebe wegen.

Und jetzt? Alles Lug und Trug. Betrug! Aber was hat er erwartet? Wer sich mit Pack einlässt… Jakob fragt sich nur, wie weit dieses Netz aus Lügen und Intrigen gewoben ist. Und wer die Fäden zieht. Tatsächlich Michael Silberstein? Er hat gestern so gelöst gewirkt, entspannt. Glücklich. In seinen Augen stand deutlich die Zuneigung zu der Frau, die er Jakob übergeben hat, vor dem Altar. Ist sie vielleicht seine Geliebte? Ist diese Ehe die Legitimation für Michaels Affäre?

„Wer bist du? Wie kommst du hierher? Pass auf“, sagt Jakob und zwingt seine Stimme zu kalter Ruhe. „Ich gebe dir genau 5 Minuten. Nutze sie gut. Denn danach will ich keine Erklärung, sondern die ganze Wahrheit. Wo ist Rachel? Wen habe ich gestern geheiratet? Wer steckt hinter diesem Plan? Wenn du mir das nicht sagst, werfe ich dich auf der Stelle über Bord. Dann rufe ich die Polizei und beschreibe in allen Einzelheiten, wie du dich auf die Yacht geschlichen und für Rachel ausgegeben hast. Wie du versucht hast, mich umzubringen – mit diesem Messer hier“  – er greift nach ihrer Hand und legt ihre Finger fest um das spitze Obstmesser, das sie ihm, mit einem goldenen Pfirsich und einer rosaroten Papaya, vor wenigen Minuten ans Bett gebracht hat. Als liebevolle Frühstücksgabe.   „Und wie du, nachdem ich dir das Messer entwunden habe“, – der Glaubwürdigkeit halber rammt Jakob sich die Spitze in die eigene Hand – „über Bord gesprungen bist, bevor ich dich zurückhalten konnte. Willst du das?“

Die junge Frau, die behauptet, Rachel zu sein, die ihr auch irgendwie ähnelt, aber so, als habe sich die knabenhafte Zartheit in reife Weiblichkeit gewandet, diese Frau setzt sich auf das Bett, schlägt die Hände vors Gesicht und beginnt, hemmungslos zu weinen. Sie schluchzt, und ihr ganzer Körper bebt. Schultern, Bauch und Beine. Sogar die Füße zittern. „Ich wusste es. Das konnte nicht funktionieren. Ich hätte nie mitmachen sollen. Aber… aber… ich liebe dich so. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe!“

„Schwachsinn. Sowas gibt’s doch gar nicht. Ich kenne dich ja nicht einmal!“

„Doch, Denk nach. Obwohl – so ist das immer und mit allen. Sie schauen mich an, aber sie sehen mich nicht. Als wäre ich ein Geist. Oder ein missglücktes Hologramm meiner Schwester.“

„Deine Schwester? Ach, hör auf. Du verlierst nur kostbare Zeit. Dir bleiben jetzt noch genau… (Blick auf die Uhr) drei Minuten.“

„Gib mir mein Handy“, bittet die junge Frau ihren Mann. „Bitte, ich rufe Rachel an. Sie, er wird dir alles erklären. Aber hör mir zu, Jakob. Mein Name war Lea. Jetzt heiße ich Rachel. Und ich bin deine Frau – ich werde alles für dich tun. Immer! Ich liebe dich. Nur das zählt.“

„Du machst was? Rachel? Bist du verrückt? Du bist verrückt!“

„Denk doch, was du willst. Ich rufe Rachel an. Ich hoffe, dass du dann alles verstehst. Und trotzdem bei mir bleibst.“

Lea, die neue Rachel, drückt auf die Schnellwahltaste. Wartet. Versucht es noch einmal. Nichts“ „Das versteh ich nicht…“, murmelt sie verzweifelt.

Da hören sie Schritte an Deck. „Lea?“ Eine melodiöse Stimme, mehr Tenor als Alt. „Lea, Jakob, seid Ihr unten?“

„Rachel!“ Jakob springt auf. Zieht sich die Boxershort über und ein T-Shirt und sprintet die schmale Treppe hinauf. Oben an Deck steht ein junger Mann. Schmalhüftig, das schwarze Haar zu einem Manbun gebunden. Stechende graublaue Augen schauen Jakob an. „Wo ist Lea? Was hast du mit ihr gemacht?“

„Rachel?“, fragt Jakob. Er ist verunsichert. Der Mensch vor ihm ähnelt seiner großen Liebe. Zweifellos. Die gleichen androgynen Gesichtszüge, die gleiche Größe. Der Körper ist immer noch zierlich, aber muskulös. Vor allem – das ist keine Frau. Das ist ein junger Mann. Oder?

„Wo ist Lea?“, Rachel – oder wer auch immer das jetzt ist – schiebt Jakob unsanft beiseite und geht schnell Richtung Treppe. Da kommt Lea von unten herauf. Die Tränen haben ihre Kontaktlinsen herausgespült, ihr linkes Auge irrt angstvoll umher. „Oh, Rex. Ich wusste, das geht nicht gut. Er liebt mich nicht. Er kann mich nicht lieben. Nie! Was machen wir bloß?“

„Wir setzen uns hin und besprechen die Lage. Jakob hat natürlich ein Recht darauf, dass wir ihm alles erklären. Und dann – musst du dich entscheiden, Jakob May.“

Rachel – Rex? – deutet auf die gepolsterten Bänke an Deck. Es könnte wundervoll sein. Ein Moment für die Ewigkeit. Das Meer so still und blau wie der Himmel. Der Yachthafen und dahinter die bunten Häuser. Möwen kreisen über ihnen. Jakob hockt sich auf die Bank, stützt den Kopf in die Hände. Die Aufregung der letzten Tage, der viele Alkohol, die stürmische Nacht, und dann der Schock nach dem Aufwachen. Das Leben schlägt über ihm zusammen. Er will nichts mehr hören. Nichts mehr fühlen. Nur Stille.

Aber dazu lässt Rex ihm keine Zeit.

„Jakob. Entschuldige! Wir haben dich verletzt. Missbraucht. Belogen, zum Teil. Du hast allen Grund, wütend zu sein. Das verstehen wir. Bitte, gib uns die Chance, dir alles zu erklären. Aber wenn du sagst, dass du das partout nicht willst – dann geh. Weit weg. Von uns. Von der Kanzlei. Fang ein neues Leben an. Wir geben dir 24 Stunden Vorsprung.“

„Vorsprung? Vor was?“

„Bevor wir dich anzeigen. Wegen Korruption und Steuerhinterziehung.“

„Was? Spinnst du? Was soll das?

„Du hast die Wahl. Hörst du uns an?

„Ok“, sagt Jakob, der vor kurzem noch damit gedroht hatte, Lea über Bord zu werfen und der Polizei als Mörderin zu präsentieren.

„Das wird eine längere Geschichte. Pablo, machst du uns ein paar Drinks? Limonade, am besten“, lächelt Rex, und der junge blonde Mann neben ihm geht unter Deck in die Kombüse.

„Lea und ich sind Zwillinge. Zweieige. Aber dafür sehen wir uns sehr ähnlich. Lea war schon immer die Weichere. Das Mädchen. Ich wurde auch als Mädchen erzogen. Meine Eltern nannten mich Rachel. Aber das bin ich nicht. Ich bin intersexuell. Zwitter, das Wort kennst du vielleicht eher. Und ich fühle mich nicht als Frau. Hab ich noch nie. Naklar, als Kind und auch noch als Jugendliche habe ich mich so verhalten, wie meine Eltern das wollten. Aber als ich nicht in die Pubertät kam, fing ich an, Fragen zu stellen. Mein Vater wollte nicht mit mir darüber reden. Du bist meine Tochter Rachel. Wenn du keine Periode bekommst, sei froh. Bleibt dir viel erspart. Er verlangte von mir, weiter Röcke anzuziehen. Ich rebellierte. Lief weg. Mein Vater ließ mich suchen und fand mich immer.

Irgendwann hielt meine Mutter, unsere Mutter, das nicht mehr aus. Sie hat sich besser versteckt als ich. Keine Ahnung, wo sie heute lebt. Ich stieg in die Kanzlei ein. Und ich war gut. Wurde immer besser. Mein Vater schickte mich ins Ausland. USA, Asien. Aber mit meinem Erfolg wuchs auch mein Wunsch nach Unabhängigkeit. Nach meiner Identität. Ich war in einer ausweglosen Situation. Mein Vater hätte mich als Sohn nie toleriert. Er hätte mich gezwungen, immer weiter als Rachel zu leben. Oder ausgestoßen zu werden.

Und dann kamst du, Jakob. Und hast dich unsterblich in mich verliebt. Zuerst war ich entsetzt. Aber dann erkannte ich die Riesenschance. Als mein Vater dir anbot, dich zwei Jahre lang einzuarbeiten und mich dann zu heiraten, meinte er das erst. Du warst auch für ihn ein Gottesgeschenk. Die widerspenstige Rachel endlich unter der Haube!

„Aber – und Lea?“, hört Jakob sich fragen. Er sieht sich suchend um und entdeckt sie neben sich. Sie legt ihre Hand auf seinen Arm und lächelt. Voller Liebe.

„Ja, Lea. Sie…“

„Nein, Rex. Jetzt bin ich dran. Ich habe viel zu lange im Schatten geschwiegen. Ich erzähle meine Geschichte selbst. Die ganze Kindheit war für mich genauso ein Horror we für Rachel – Rex. Ich war unsichtbar. Keiner kümmerte sich um mich, die kleine schielende Lea. In der Pubertät bekam ich weibliche Formen. Aber auch dann war die androgyne Rachel immer der Star. Ich studierte Malerei, mein Vater verschwendete keinen Gedanken daran, mich in die Kanzlei aufzunehmen. Wenn wir Gäste hatten, wurde ich nach einer kurzen Begrüßung immer weggeschickt. Die peinliche Lea.

Ja. Und dann kamst du. Jakob. Ich wusste von den Plänen unseres Vaters und war einfach neugierig auf dich. Ich schlich die Treppe hinunter – und es war für mich Liebe auf den ersten Blick.“ Sie drückt Jakobs Arm, und er – lässt sie gewähren. „Ich schiele eigentlich nur noch, wenn ich aufgeregt bin“, sagt Lea plötzlich. Und lächelt. Schon wieder.

„Der Rest ist schnell erzählt“, nimmt Rex den Faden auf. „Während deiner „Probezeit“ nahm ich in Japan männliche Hormone. Inzwischen ließ Lea sich die Haare wachsen und ihr Auge behandeln. Damit sie mir bei der Hochzeit so ähnlich wie möglich sehen würde.“

„Und euer Vater hat nichts gemerkt? Nichts gewusst?“

„Nein. Erst als die Hochzeit immer näher rückte und ich nicht nach Hause kam, wurde er unruhig. Er überraschte mich in Tokyo. Und dann kam natürlich alles raus.“

„Aber warum hat er dann mitgespielt?“

„Wir haben ihm keine Wahl gelassen,“ sagt Lea ganz sachlich. „Wenn er mitnachte, wäre seine Tochter Rachel unter der Haube und würde sich aus dem Geschäftsleben  zurückziehen. Das klingt auch heute noch für viele plausibel. Leider. Statt ihrer würde Cousin Rex aus Atlanta, Georgia, ihre Arbeit fortführen. Die ideale Lösung für ihn: Lea würde statt einer Jungfer die Frau seines Nachfolgers. Und Mutter seiner Enkel. Rachel würde ihn nie blamieren. Und mit Rex wäre der Geschäftsbereich Asien weiterhin in besten Händen.“

„Und Michael hat zugestlmmt“, stellt Jakob fest.

„Ja. Natürlich. Die Alternative wäre gewesen, dass wir all seine schmutzigen Geschäfte, die wir über die Jahre sorgfältig dokumentiert und sicher verwahrt haben, ans Licht bringen. SingSing statt Côte d’Azur. Das gleiche gilt übrigens auch für dich, mein Liebster, solltest du aussteigen wollen. Was ich nicht hoffe, denn ich liebe dich“, flüstert Lea, die Süße, Zärtliche.

Jakob schluckt. Ein knallhartes Geschwisterpaar.

„Denk drüber nach, Jakob. Aber nicht zu lange. Schau, das Ganze hat für dich nur Vorteile. Du wirst Chef einer mächtigen Kanzlei. Hast eine liebende Ehefrau und Mutter deiner Kinder. Die übrigens ganz offiziell ihren Namen von Lea auf Rachel geändert hat. Ganz ehrlich – würdest du dein Leben mit Rex verbringen wollen? Mit allen Konsequenzen? Frag Pablo, ich bin sehr anspruchsvoll. Auch, was das Liebesleben betrifft.“

Jakob schwirrt der Kopf. Aber irgendwie – findet er die Situation spannend. Und der Anwalt in ihm wittert eine Chance: „Abgemacht. Unter einer Bedingung. Ihr bringt euren Vater dazu. Im nächsten halben Jahr abzudanken. Die verbleibende Zeit muss ihm genügen, um all seine halbseidenen Geschäftspartner abzuschießen. Wenn ich die Kanzlei übernehme, wird Silberstein, March & May nur saubere Arbeit machen. Ich bin kein Verbrecher und will es niemals werden.“

Was die Zukunft bereit hält
Jakob führt die renommierteste Kanzlei für Fälle, in denen sich David gegen Goliath durchsetzt. In allen Bereichen. Seine Frau Lea Rachel stellt erfolgreich in Galerien aus, gibt aber hauptsächlich maltherapeutische Kurse für Kinder aus schwierigen Familien. Michael Silberstein teilt sich die Rolle als Vollzeit-Opa mit seiner wieder aufgetauchten Ehefrau. Und wird dabei immer wieder von Jakobs Eltern unterstützt.

Und Rex? Leitet den gesamten Asien Bereich der Kanzlei. Und lebt immer noch mit Pablo zusammen. Inzwischen haben sie bereits vier Dobermänner, allesamt unkupiert und unkastriert.

Adventskalender MiniKrimi am 7. Dezember


Eine schöne Bescherung 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am schlimmsten. Wenn draußen die Lichtgirlanden, in den Fenstern die Jakobsleitern und am Adventskranz die Kerzen leuchten, wenn die Luft nach Glühwein duftet und gebrannten Mandeln, wenn sich im Keller die Dosen mit frisch gebackenen Plätzchen stapeln und das Radio „Last Christmas“ in Dauerschleife dudelt, packen die Erinnerungen Erika jedes Mal mit aller Macht. Denn genau in dieser magischen, wunschprallen, nach Vergebung und Liebe suchenden Zeit ist Erika die schlimmste Kränkung ihres Lebens widerfahren. 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am besten. Wenn draußen ein eisiger Ostwind den Schnee vor sich hertreibt und drinnen vor dem munter flackernden Kaminfeuer Whiskey und Pfeife auf ihn warten, genießt Eduard die Erinnerungen am meisten. Und während das Holz in den Flammen knistert, ergreift die Genugtuung wieder Besitz von jeder Faser seines Körpers, prickelnd und über die Maßen erregend.

Erika hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Erstgeborene, ein Mädchen statt des ersehnten Stammhalters, schmal und schmächtig. Aus der konnte nichts „Gescheites“ werden, das hatte die Mutter gleich beim Anblick der Neugeborenen prophezeit. Im Laufe ihres Lebens hat Erika diese Erwartungen voll und ganz erfüllt. Von einer scheuen Schülerin, die sich statt in Freizeitaktivitäten lieber in Bücherwelten stürzte, entwickelte sie sich zur einer musikbesessenen Medizinstudentin. Natürlich gaben ihr die Eltern keinen Pfennig dazu, und Erika verdiente sich Studium, Bücher, Unterkunft und Essen durch Klavierunterricht. Dass sie ihr überhaupt erlaubten, die Universität zu besuchen, lag ganz einfach daran, dass sie dadurch früh „aus dem Haus, dem Auge und dem Sinn“ der Mutter verschwand.

Eduard interessierte sich schon im Kinderwagenalter für Geschwindigkeit: er stellte sich kerzengerade in seinem Buggy auf und hieb mit einem langen Schnürsenkel auf die Schwester ein, die ihn, wie ein eingespanntes Pferd, in Windeseile über den Hof ziehen musste. Mit fünf zerschnitt er die Bremsen ihres Fahrrads, woraufhin sie wie ein Pfeil die Straße bergab und gegen den Baum an der ersten Kreuzung sauste. Selbstverständlich trat er nach dem Realschulabschluss in das elterliche Autohaus ein und verdrängte den Vater, so schnell es ging, aus dem Geschäft. Sein rasanter Lebensstil kostete im Laufe der Zeit allerdings mehr, als ihm seine diesbezügliche Expertise einbrachte. Schließlich stand das Autohaus – das Lebenswerk des Vaters – kurz vor dem Konkurs. Dann starb die Mutter, und nur mit ihrem Geld konnte er die geschäftliche „Kurve kriegen“. Allerdings war dazu mehr als sein eigener Erbanteil nötig...

Erika, inzwischen längst Landärztin mit eigener Praxis, Ehemann und zwei Kindern, saß bei der Testamentseröffnung kerzengerade auf dem Ledersofa. Sie musste gegen die ungehindert durch die großen Fenster in den Raum hineinstürzende Sonne blinzeln und nahm den Anwalt, den die Mutter offenbar kurz vor ihrem Tod mit ihren Angelegenheiten betraut hatte, – übrigens ein Kunde und Duzfreund ihres Bruders – nur als Scherenschnitt war.  Im Nachhinein hat sie versucht, das Testament anzufechten, um zumindest einen Pflichttei des Erbes zu erhalten. Vergeblich. Nachdem sie alle Instanzen durchlaufen hatte, nahm der Richter, der ihr in der letzten Verhandlung die allerletzte Hoffnung genommen hatte, sie beiseite. Ob ihr bewusst sei, dass ihr Anwalt zur Clique von Eduard gehöre? Er habe es wirklich geschickt angestellt, so dass ihm, dem Richter, bei dieser lückenlosen Vorgehensweise tatsächlich die Hände gebunden gewesen seien.

Eduard sitzt vor seinem Kamin. Verträumt betrachtet er die Glut. Um ihn herum nur die Stille einer sternenklaren Nacht. Er hat den Brief zweimal gelesen. Wort für Wort. Aber er kann keinen Fallstrick erkennen. Nur eine tiefe Traurigkeit. Erika war schon immer melancholisch veranlagt. Sie schreibt, dass ihr Mann gestorben sei. Ein Unfall, der die gesamte Familie in arge Bedrängnis gebracht habe. Sie könne die Praxis nicht mehr halten und werde wohl auch aus dem Haus ausziehen müssen. Das wenige Geld, das ihr bleibe, sei für die letzten Studienjahre ihre Kinder bestimmt. Nach so viel Leid habe sie das dringende Bedürfnis, in ihrem Leben Ordnung zu schaffen. Sie wolle den Zwist mit ihrem Bruder beilegen. „Lassen wir den Schnee von gestern doch einfach tauen“, schrieb sie. „Und endlich wieder wie Geschwister zueinander sein.“

Der dem Brief beigelegte Versöhnungstropfen muss noch aus dem Weinkeller seines Schwagers stammen. Ein vorzüglicher Chateau Lafitte. „Santé, Schwester“, sagt Eduard und hebt das Glas.

Dank seiner Selbstgerechtigkeit ist er kaum überrascht, als sie trotz vorgerückter Stunde vor seiner Tür steht, und es gelingt ihm gerade noch, ihr das Glas in die Hand zu drücken, als die Welt um ihn herum sich zu drehen beginnt. Sekunden später liegt er leblos auf dem Terracottaboden.

Frau Dr. Erika Monhaupt ist untröstlich, den Bruder so unmittelbar nach ihrem Wiedersehen verloren zu haben. Dabei verschweigt die Ärztin natürlich sowohl ihren Brief samt Versöhnungsgeschenk als auch ihre Kenntnis bezüglich der Ursache für den plötzlichen Tod ihres Bruders. 

Die Vorweihnachtszeit, denkt sie, während draußen dichte Schneeflocken tanzen und im Kamin ein lustiges Feuer prasselt, ist doch gar nicht so übel. Morgen kommen die Kinder. Ist das nicht eine schöne Bescherung?

Adventskalender MiniKrimi am 5. Dezember


Wunschlos glücklich

„Was wünscht du dir zu Weihnachten, Nicoletta? Egal was es ist, sag es uns. Wir werden versuchen, dir deinen Wunsch zu erfüllen. Wir sind so überglücklich, dass wir durch dich eine richtige Familie geworden sind, meine Süße!“

„Und so eine stolze. Mit so einer wunderhübschen Tochter.“ Antonia strahlt das kleine Mädchen an und streckt die Arme nach dem Kind aus. In Zeitlupe bewegt sich Nicoletta vom Ende der Couch in Richtung der Frau mit den langen blonden Locken, die sie erst seit 3 Monaten kennt und jetzt „Mama“ nennen soll. Dabei sah ihre Mama ganz anders aus. Schwarze Haare, so wie sie selbst. Große graue Augen und ein lustiges Grübchen am Kinn. Helena hieß sie – und sie war viel jünger als diese Frau. 

„Freust du dich denn gar nicht auf unser erstes gemeinsames Weihnachten?“, fragt die blonde Zweitmama jetzt. Zweitmama, so nennt Nicoletta sie heimlich. 

„Ich glaube, wir überfordern sie gerade, Antonia. Das ist alles ein bisschen viel für sie. Sie ist doch erst vor einer Woche bei uns eingezogen. Lass ihr etwas Zeit zum Eingewöhnen. Das ist hier alles neu für sie. Sie kommt sich wahrscheinlich vor wie in einem Märchen.“ Edgar ist ungefähr so alt wie seine Frau. Er hat braunes Haar, einen Bart und eine runde Brille. Eigentlich sieht er lustig aus. Lustig und so, als ob man ihm vertrauen könnte. Eigentlich. 

„Ja, das stimmt. Entschuldige, Nicoletta. Komm erst mal richtig an. Genieß dein großes rosa Zimmer, den verschneiten Garten, den Kamin. Das muss eine riesen Umstellung sein für dich, aus einer winzigen Sozialwohnung in so ein prächtiges Haus.“

„Antonia!“ Aber es stimmt. Edgar und seine Frau haben Nicoletta schon seit ihrem ersten Kennenlernen in Anwesenheit der Sozialarbeiterin nach Strich und Faden verwöhnt. Sie mit Kleidung überhäuft, sie hat ein Ipad bekommen und ein IPhone. Und ein komplett eingerichtes Zimmer mit einem Himmelbett und einem dreistöckigen Puppenhaus. Das Kind hat das alles an- und hingenommen und immer danke gesagt. Aber das einzige Mal, als Nicolettas Augen geleuchtet haben und sie übers ganze Gesicht gestrahlt hat, war, als Edgar ihr mit Puppy an der Leine entgegenkam. Einem blonden Retriever-Welpen. 

Auch jetzt dreht sie sich nach ihm um. Er ist immer in ihrer Nähe und schmiegt seine weiche Schnauze in Nicolettas Hand. 

„Vielleicht hat sie im Moment einfach keine offenen Wünsche mehr. Bist du wunschlos glücklich, Nicoletta?“, fragt Antonia.

Die Kleine zuckt mit den Schultern. Schaut auf Puppy. Dann hinaus in den Garten. „Also – einen Wunsch hätte ich schon. Aber ich weiß nicht, ob das geht…“

„Erzähl! Dann werden wir sehen“, ermutigt Edgar seine neue Tochter. 

„Meine Mama, also, meine echte Mama“ – dabei schaut das Kind entschuldigend zu Antonia hinüber, die bemüht lächelt – „hat mir immer erzählt, dass der Weihnachtsmann in der Heiligen Nacht durch den Kamin kommt und die Geschenke bringt. Aber ich habe ihn nie sehen können, weil – wir hatten doch keinen Kamin. Ich wünsche mir so sehr, dass der Weihnachtsmann mir die Geschenke bringt – und ich möchte ihm dabei zusehen. Nur ganz heimlich, durchs Schlüsselloch. Damit er mich nicht entdeckt…. Meint Ihr, das geht?“

Antonia und Edgar schauen sich an. Nein, das geht auf keinen Fall, und überhaupt, glaubst du noch an den Weihnachtsmann? Der Satz liegt Antonia noch auf den Lippen, als Edgar schon antwortet: „Wenn’s weiter nichts ist! Klar geht das. Wir haben doch einen extra guten Draht zum Weihnachtsmann!“ 

Und endlich lächelt Nicoletta. Sie lächelt Edgar an, nicht nur mit dem Mund, sondern mit strahlenden Augen.

Später, als die Kleine im Bett liegt, kommt es zu einer heftigen Diskussion zwischen den frisch gebackenen Eltern.

„Wie konntest du ihr sowas versprechen. Das Kind ist acht Jahre alt! Was soll der Quatsch mit dem Weihnachtsmann? Und dieser Blödsinn mit dem Kamin! Wie willst du das anstellen? Bei uns ist die Bescherung außerdem an Heiligabend, nicht erst am Weihnachtstag. Nur, weil ihre Mutter aus Italien oder England oder so kam, müssen wir uns doch nicht anpassen.“

„Es ist ihr erstes Weihnachten bei uns! Und die Sache ist ganz einfach! Ich verkleide mich als Weihnachtsmann und verstecke mich im Kamin, während Du Nicoletta holst. Dann gibst du mir ein Zeichen, du hustest, oder so, und ich rutsche runter und verteile die Geschenke. Im Zimmer ist es dunkel, und ich bin mit Rauschebart und Haaren sowieso nicht erkennbar. Dann scheuchst du sie schnell wieder ins Bett. Das ist alles. No problem.“

An Heiligabend geht Nicoletta früher als sonst ins Bett. Die Aufregung…! Antonia hat ihr fest versprochen, sie nachts zu wecken und mit ihr dem Weihnachtsmann aufzulauern. Aber vorher drehen die Eltern noch eine Runde mit Puppy.

Dann ist es gleich soweit. Erwartungsvoll starrt Nicoletta durch’s Schlüsselloch. Puppy schmiegt wie immer seine weiche Schnauze in Nicolettas Hand. Antonia steht gelangweilt daneben. „Ohhhh“, flüstert Nicoletta plötzlich. Dann „Ahhhh!“.

Von drinnen kommt wie eine Antwort ein Schrei: „AHHHHHHH!“ Und noch einer: „AHHHHH! Antoniaaaaa!“ Antonia reißt die Tür auf und bleibt vor Schreck erstarrt auf der Schwelle stehen. Im Kamin prasselt ein lustiges Feuer, und der Weihnachtsmann tanzt davor herum, in wilden Sprüngen, wie eine lebendige Fackel. Antonias Versuche, ihren Mann zu löschen, kommen zu spät. Weißer Phosphor ist tückisch und brennt mörderisch.

Nicoletta ist nicht schuldfähig, aber da Antonia sich weigert, das Kind auch nur eine Nacht länger unter ihrem Dach zu beherbergen, kommt die Kleine zunächst in ein Heim mit psychiatrischer Betreuung.

Sie erzählt frei und ohne Scheu von ihrem Plan, sich am Mörder ihr Mama zu rächen. Den weißen Phosphor hatten sie gemeinsam am Elbstrand gefunden. Es sah aus wie Bernstein, aber Mamas damaliger Freund erklärte ihnen den lebensgefährlichen Unterschied. Nach seinen Anweisungen hob Nicoletta ihn in einer Metalldose auf, bis sie ihn in den Kamin zum Trocknen legen konnte. 

Dass Edgar unmöglich der Mörder ihrer Mutter sein könne, scheint sie nicht zu interessieren. Der Mann, der die junge Frau vor den Augen der Tochter überfahren und dann einfach weitergebraust war, fuhr den gleichen goldenen SUV und hatte ebenfalls braune Haare.  „Übertragung“ nennt die Psychiaterin das. Nicoletta ist das egal. Sie hat ihre Mama gerächt. 

Adventskalender Minikrimi am 5. Dezember


Keine Wahl

Sie ist wach, lange, bevor der Wecker klingelt. Früher hat sie sich nach dem ersten „Kikerikiiii“ nochmal tief in die Daunen geschmiegt, und wenn Mami um sieben mit einer Tasse Kakao ins Zimmer kam und gut gelaunt rief „Sofia, aufstehen, der Morgen lacht!“, lugte nur die Nasenspitze aus der Decke hervor. Früher. Da hatte Sofia nie verstanden, wie Mami es schaffte, immer gut drauf zu sein. Sogar, wenn es draußen noch dunkel war, oder wenn sie einen tierisch ekligen Tag vor sich hatte, mit lauter unangenehmen Meetings und so. Jetzt kommt Mami morgens nie in ihr Zimmer, sondern liegt in unruhigem Medikamentenschlaf bis mittags im Bett.

Sofia schält sich aus der Decke – die Daunen sind in der Waschmaschine verklebt und hängen in Klumpen im Bettbezug. „Aufstehen, Simon, der Morgen lacht“, flüstert sie ihrem kleinen Bruder ins Ohr. Eigentlich nervt es sie, dass er in ihrem Bett schläft, aber jetzt im Winter wärmen sie sich so wenigstens gegenseitig. Und Simon braucht alle Wärme, die er kriegen kann, denkt Sofia. Zärtlich streicht sie ihm das schlaffeuchte Haar aus der Stirn. Blonde Locken, wie Papa. Papa. Sofia schluckt etwas herunter, was wie Tränen schmeckt. Aber sowas kann sie sich nicht leisten. Nicht mehr. Sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

Sofia ist erst dreizehn, doch seit ihr Vater vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist – „hit and run“ – heißt das in Amerika, ist sie es, die den Familienalltag am Laufen hält. So gut sie es eben kann. Die Mutter ist chronisch depressiv, zu Zeiten sogar suizidal. Wenn du kein Einkommen hast und keines verdienen kannst, geht der soziale Abstieg ganz schnell. Vaters Geld war in einem halben Jahr verbraucht. Haus und Möbel wurden versteigert, dann der Umzug in die Sozialwohnung.

Sofia hatte kein Problem damit, in eine neue Schule zu gehen, eine Gesamtschule, was anderes gibt es nicht in der Nähe. Die Freundschaften aus dem Mädchengymnasium hatte sie da bereits hinter sich gelassen. Du wirst uninteressant, wenn du nichts mitmachen kannst. Kein Shopping, keine Clubs, und nach den Ferien hast du keine Urlaubsabenteuer zu berichten, weder von den Seychellen noch vom Sprachkurs in England. Nein. Ganz so stimmte das nicht. Es gab da schon ein paar Mädchen, die nicht so waren. Die gerne weiter mit ihr befreundet gewesen wären, weil sie sich mochten. Aber Sofia hatte einen Schlussstrich unter ihr altes Leben gezogen. Und alle und alles hinter sich gelassen. Außerdem hat sie gar keine Zeit mehr für Freundschaften.

Schließlich muss sie sich nicht nur um Simon kümmern, sondern auch um ihre Mutter. „Mami, Simon braucht neue Schuhe“, hat sie erst gestern gesagt und versucht, die dicke Mauer aus Tabletten und Gleichgültigkeit zu durchdringen. „Mir geht’s grade nicht so gut, frag Papa“, war die Antwort.

Frag Papa. Was würde er machen? Er würde sich kümmern, eine Lösung finden. In diesem Fall wohl vor allem: Geld verdienen. Sofia ist dreizehn und geht noch zur Schule! Aber sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

In den letzten Wochen hat sie angefangen, in der Pause mit ein paar Typen aus ihrer Klasse rumzuhängen. Eigentlich, nachdem Mandy, sowas wie die Anführerin der Mädchen, versucht hatte, sie fertig zu machen. „Du glaubst wohl, du bist was besseres?“ „Du wohnst in genau so ner dreckigen Sozialwohnung wie wir, ich hab dich heimgehen sehen, du Lauch. Du Bitch, du bist so wack….“ Sofia hatte zwar nicht den Wortlaut verstanden, aber wohl die Absicht. Früher, da hatte Papa sie zum Muay Thai-Training gefahren („Ich fände Ballett ja besser, aber vielleicht musst du dich mal verteidigen können“). Genau. danke Papa. Mandy war zu Boden gegangen. Und Sofia hatte eine neue Clique.

Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber die Bewunderung der Jungs tat ihr gut. Sie lernte, Zigaretten zu drehen und Shisha zu rauchen. Eines Tages schenkte ihr Ben einen Minirock aus Kunstleder und sagte: „Den hab ich für Dich gefunden. Mach dich schön, wir gehen zu ner Party, die is lit af.“ Sofia verstand, dass sie nicht nein sagen konnte. Schweren Herzens löste sie ein mini Stück von Mamis Schlaftabletten in Simons Saft auf, legte ihn ins Bett und ging. Ben hatte nicht zu viel versprochen. Die Party war „echt cool“, wie Sofia sich ausdrückte. Es gab Bier und Wodka und Red Bull und Tabletten. Alles umsonst. Zum ersten Mal nach Papas Tod fühlte sie sich frei. Und gut.

Das ist jetzt vier Wochen her. Inzwischen hat sie kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie Simon die aufgelösten Schlaftabletten gibt. Der Kindergärtnerin hat sie gesagt, er hätte eine verschleppte Erkältung und sei deshalb tagsüber so teilnahmslos. Die Schule bringt sie irgendwie hinter sich. Sie ist immer noch besser als der Rest der Klasse, auch, wenn sie nicht lernt und keine Hausaufgaben macht. Der Lehrer lässt sie in Ruhe, denn sie hebt den Durchschnitt. Mandy macht einen Bogen um sie. Sie gilt als Bens Girlfriend. Er kauft ihr Klamotten, was zu essen, genug für sie und Mami und Simon, am Abend die Drinks und die Tabletten. Mehr als knutschen war bislang nicht drin, aber Sofia weiß, irgendwann wird sie sich revanchieren müssen.

Irgendwann war vor drei Tagen. „Süße“, hatte Ben ihr ins Ohr geflüstert und dabei immer wieder daran genagt. „Süße, meine kleine Bitch. Es wird Zeit, dass du mir zeigst, wie lieb du mich hast.“ Sofia hatte genug Wodka und Tabletten intus, um ihm als Antwort die Zunge ganz tief in den Hals zu stecken und sich rhythmisch an seinem Köper zu reiben. Aber das war es gar nicht, was Ben wollte. Er schob sie ein Stück von sich weg auf der abgewetzten, fleckigen Kunstledercouch und sagte, plötzlich ganz Businessmann: „Siehst du die drei Betties da drüben? Die sind echt Boyfriend-Material. Aber sie müssen noch auftauen. Mach mal.“ Und er legte ihr ein paar von den blauen Pillen in die Hand. „Nein, mach ich nicht“, hatte Sofia gesagt. Denn sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen. Sie zieht andere nicht mit runter.

Erstaunlicherweise hatte Ben sie nicht gezwungen. Aber am nächsten Tag auf dem Schulhof hat er sie am Arm gepackt und zum Zaun gezogen. Da standen zwei Männer, schwarz gekleidet, solche, die ihr Muay Thai-Trainer immer mit ganz harten Augen weggeschickt hatte. „Süße, wenn du keinen Stoff verticken willst, dann musst du was anderes machen. Ich hab wegen dir so viel Schulden bei den beiden hier gemacht, da musst du jetzt bezahlen helfen….“, sagte Ben.

Sofia hatte sich losgerissen und war in das Schulgebäude gerannt. Hatte ihre Tasche geholt, dem Lehrer gesagt, ihr sei schlecht, und war nach Hause gegangen, immer mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Zuhause hatte Mami Spaghetti gekocht, und sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, es war fast wie früher. „Mami, ich hab da ein Problem“, hatte Sofia begonnen, ihr Herz auszuschütten. Aber ihre Mutter hatte schon wieder versonnen in die Pasta geschaut, nichts gegessen und nur abwesend gemurmelt: „Schatz, frag Papa.“

Als sie Simon vom Kindergarten abholte, fuhr ein schwarzes Auto hinter ihnen her, ganz langsam. In der Wohnung schloss Sofia die Haustür ab, zog die Vorhänge zu und legte sich mit Simon ins Bett.

Gestern Morgen hatte sie in der Schule angerufen und gesagt, „meine Tochter ist krank.“ Das gleiche hatte sie mit dem Kindergarten gemacht. Sie rührte sich nicht aus der Wohnung. Simon protestierte, ihm war langweilig, und den blöden Saft wollte er plötzlich auch nicht mehr trinken. „Der schmeckt so bitter, und dann ist mein Kopf immer soooo schwer.“ Sofia schaute den Schatten zu, wie sie sich über die Wände legten, und den Ameisen, die Simons verschmähtes Marmeladenbrot in unzählige Transportbrocken zerlegten und durch die Küche schleppten, wer weiß wohin.

Gestern Abend, Sofia war grade im Bad, hatte es an der Tür geklingelt, und Simon war schneller gewesen. Als Sofia dazukam, stand Ben da. Nur Ben. Er kam nicht rein, gab ihr ein kleines Päckchen und sagte: morgen holen sie dich ab. Tu, was sie dir sagen. Du hast deinen Bruder doch lieb. „Simon?“ fragte Sofia. „Simon!“ rief sie. Aber Simon war verschwunden.

Später, als sie auf dem Bett saß und ungläubig auf die Waffe starrte, die sie ausgepackt hatte, klingelte ihr Handy. „Hast du es dir überlegt? ja? Dann komm runter. Dein Bruder wartet im Auto. Wenn wir dir erklärt haben, was du zu tun hast, kannst du ihn mit rauf nehmen. Aber wenn du es dir morgen anders überlegst, ist er für immer weg. Wir wissen, wo er spielt….Klar?“

Jetzt bringt Sofia Simon zum Kindergarten. Wie jeden Morgen. Gibt ihm einen Kuss. Wie jeden Morgen. Um die Ecke wartet der schwarze Wagen. Sie steigt ein. Die Männer fahren mit ihr zu einer Garage, dort muss sie die Waffe abfeuern. Zur Übung. Es ist gar nicht schwer. Sie wird aus nächster Nähe schießen und braucht nicht wirklich zu zielen. Sie ist ein großes Mädchen.

Das Auto hält vor einem riesigen Gebäude, Stahl und Glas. Sie steigt aus. In der einen Hand hält sie ein Foto, in der anderen, in einem Beutel versteckt, die entsicherte Waffe. Sie wartet, und als der Mann auf dem Foto die Treppe hinunter kommt, steht sie vor ihm, sagt „Hallo“. Er lächelt sie freundlich an: „Hallo, Kleine!“ Und Sofia drückt ab.

„Nur wenige Minuten nach seinem Freispruch ist „Ali G. das Oberhaupt eines von zwei konkurrierenden Drogenclans, auf den Stufen des Gerichtsgebäudes erschossen worden. Tatverdächtig ist ein Kind, zwölf bis dreizehn Jahre alt. Die Polizei sucht nach dem Mädchen, das allerdings noch nicht strafmündig ist.“

Adventskalender MiniKrimi vom 21. Dezember 2018


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Schwarze Schwingen

„Papa, ist es noch weit? Papa, ich mag nicht mehr laufen…“

Sie war sein Ein und Alles. Gewesen. Nur wegen ihr war Andreas mit Anna zusammen geblieben. So lange. Er hatte ihr alle Wünsche von den Augen abgelesen, sogar die, von denen sie noch gar nichts wusste. Das Prinzessinnenkleid mit Swarowskisteinen. Den Wuschelhund. Das Zimmer mit Rutsche und Himmelbett.

Es war ihm nicht leicht gefallen, die Wohnung in der Minervastraße zu kaufen. Dann hatte Anna aufgehört zu arbeiten, einfach so. Keine Lust mehr. Von heute auf morgen. Sie wollte Emma lieber selbst ins Bett bringen. Dabei war die Nachtschicht im Krankenhaus gut bezahlt. Er hatte mehr Projekte übernommen – und weniger Zeit für seine Prinzessin gehabt.

Aber nach einer Weile war ihr sogar das nicht genug. Als er am Abend des 21. Dezembers nach Hause kam, stand Emma im Kinderzimmer, neben sich einen prallen Koffer, im Arm ihr Schlummerle.

„Was ist los?“ hatte er gefragt. „Wir gehen. Hat Mama gesagt. Sie bringt nur noch den Wuschel ins Tierheim.“ Er hatte die weinende Emma auf den Arm genommen, die Treppe runter, ins Auto. Und los. Bis zum Waldrand. Dann weiter zu Fuß. Wenn Anna ihm Emma wegnehmen wollte – dann sollte auch sie ihre Tochter nicht mehr haben.

„Papa, fahr nicht so schnell, mir wird schlecht….“

Ich fahre nicht schnell, ich fahre nur zügig, hatte Oliver gedacht. Zügig, um nicht zu spät nach Hause zu kommen. Um zu vermeiden, dass Lea wieder Stress machte. Wie immer, wenn er mit Yannick bei seinen Eltern war. Dabei war sie nur eifersüchtig, weil sie dort nicht willkommen war. Nicht standesgemäß. Stimmte ja auch.

Olivers Fuß drückte aufs Gaspedal. Der neue Chayenne ging ab wie Schmidts Katze. Dunkel war es an diesem 21.Dezember. Und neblig. Der Schnee wollte sich nicht einstellen, dafür stieg zähe Feuchtigkeit aus den Wiesen entlang der Landstraße.

Noch so ein Thema. Warum können Deine Eltern nicht hier in der Stadt wohnen? In der Minervastraße ist sicher noch was frei. Wenn das nicht edel genug ist, weiß ich auch nicht, sagte Lea immer wieder. Und sie mochte es nicht, wenn er so lange in Huglfing blieb. Die Strecke sei so kurvig, und er trinke zu viel, weil er nicht nein sagen könne, bei seinen Eltern.

So ein Schmarrn!, dachte Oliver noch. Dann sah er die Lichter des entgegenkommenden Autos. Er wich aus und prallte gegen einen Baum am Straßenrand. Weder er noch der Chayenne nahmen großen Schaden. Oliver konnte sich wirklich nicht mehr daran erinnern, ob er Yannick zu Fahrtbeginn angeschnallt hatte……..

 

„Mama, die Bonbons sehen lustig aus, darf ich sie essen?“

Sunny antwortete nicht. Das tat sie selten, wenn es Abend wurde. Und heute, am 21. Dezember, war es ganz besonders schnell dunkel geworden. Wenn sie morgens aufwachte, war Sunny der Meinung, dass sie den Tag ganz gut hinbekommen würde. Oft schaffte sie es, aufzustehen, bevor Tante Isi Selina-Michelle zum Kindergarten abholte. Selina nannte sie so, obwohl sie nicht ihre Tante war, sondern die Sozialarbeiterin.

Wenn es ihr besonders gut ging, setzte Sunny ihre Tochter sogar in den Hochstuhl und schob ihr eine Schüssel Cocopops hin. Sollte die Tante ruhig sehen, wie gut sie für ihre Tochter sorgen konnte!

Manchmal wusch sie dann noch etwas Wäsche, machte die Betten und ging in den Supermarkt. Tomaten, O-Saft und Nudeln. Kein Alk. Aber gegen Monatsende war das Geld wieder alle. Wie sollte sie ihre Tochter gesund ernähren, ohne Geld und ohne einen vernünftigen Job? Teufelskreis.

Jetzt hatte im Briefkasten wieder eine Absage gelegen. Sie hätte einen unzuverlässigen Eindruck gemacht, das passe nicht zum Spirit des Unternehmens. Ha! Sie hätte nur Päckchen einpacken sollen. Sunny war wütend. Und traurig. Der Griff zu den Antidepressiva war ein Reflex, und weil sie immer weniger wirkten, spülte sie sie mit Wodka runter.

Sie hörte Selina-Michelles Frage nicht. Sie sah nicht, wie viele Tabletten die Kleine in den Mund nahm und runterschluckte. Sie wurde erst wach, als Tante Isi sie am Morgen packte und schüttelte, hysterisch schreiend, das passte irgendwie gar nicht zu einer Sozialarbeiterin. Da war ihre Tochter schon ganz weiß und kalt.

 

Nach dem Abendkreis haben Andreas, Sunny und Oliver ihre Jacken übergezogen und sind in den Anstaltspark gegangen. Natürlich heißt die Klinik für forensische Psychiatrie, in der sie untergebracht sind, nicht Anstalt. Aber die drei machen sich über die anderen „Insassen“ lustig. Immerhin sind sie „anders“. Auch, wenn sie das nur dann zeigen können, wenn sie unter sich sind. Wie heute Abend. Es ist der 21. Dezember. Ein Datum, das sie verbindet. Sie gehen an der Mauer entlang. Unüberwindbar. Aber was sie gefangen hält, sind ihre eigenen Ängste und Schuldgefühle.

„Glaubt ihr, es gibt einen Platz, von wo aus sie uns sehen können?“ Sunny klingt besorgt und hoffnungsvoll zugleich. „Sicher. Vielleicht.“ „Und von wo aus sie mit uns Kontakt aufnehmen? Und wann?“ „Wenn, dann nur heute.“ Nebel zieht in schweren Fetzen um die Bäume. Er kauert sich auf die Mauer und kriecht langsam hinunter ins welke Laub. „Mamaaaa“. Sunny erstarrt. „Meine Kleine!“ „Ein Käuzchen!“ „Wuuschel, Wuuschel!“ „Der Wind!“ „Halt annn, halt annn!“ „Was für ein blöder Streich! Wir gehen ins Haus!“

Drei Schatten lösen sich von den verwitterten Steinen, sammeln die Dunkelheit um sich herum und streichen mit schwebenden Schwingen den Fliehenden hinterher. Umgreifen, umgeben sie. Saugen den Atem auf und verwandeln ihn in pechschwarze Angst.

Die Lokalzeitung berichtet als Aufmacher von der kollektiven Selbsttötung dreier Kindsmörder. Der Bundestag befasst sich mit der Problematik des Maßregelvollzugs bei Tätern mit angenommener psychischer Schädigung. Und der EuGH rügt Deutschland wegen zu laxer Handhabung der Sorgfaltspflicht.

Adventskalender MiniKrimi vom 9. Dezember 2018


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Ihr Liebhaber gepflegter Adventskriminalistik: heute mal was Preisgekröntes. Mit dieser explosiven Adventstragödie habe ich mal den Krimipreis Goldbroiler gewonnen. Viel „Spaß“ beim Lesen….

Der Tod eines Traums. Adventstragödie in vier Akten.

1.

„Dicke rote Kerzen, Tannenzapfenduft..“ „Marie, leise, Papa schläft. War so viel los in der Schule!“. Sie legte sich aufs Bett, stöpselte das Lied ins Ohr. Die Wohnung duftete nach Zimt und Plätzchen. Marie liebte den Advent, die gemütliche Heimlichzeit.

Sieht aus wie eine dicke rote Kerze. Passt perfekt in den Adventskranz.  Keiner bemerkt, wer sich vor dem Blumenladen eine Zigarette anzündet und den Docht dazu.  Jetzt schnell weg und weiter, ein sichtlich unsichtbarer Schatten in der Menge wogender Mäntel. Der Kirchturm wird zum Logenplatz, die Straße zur Arena. Ein Knall, klirrendes Glas von zerberstenden Scheiben. Schreie. Schreie und Blut.

2.

„…Man begegnet hin und wieder schon dem Nikolaus“ Er hatte immer was Süßes im Sack. Anziehend und unheimlich zugleich. Ein geheimnisvoller Fremder. Bis er ihr zu nahe kam.

Bunt und laut und weihnachtsdurstig wimmelt die Samstagsmenge in der jubelbeschallten Einkaufsmeile. Alle freuen sich und viele nehmen gern den Glühwein, den ihnen der dick vermummte Nikolaus freundlich lächelnd anbietet. Sie kommen nicht weit. Rattengift wirkt schnell.

3.

„Lieb verpackte Päckchen, überall versteckt“. Am letzten Schultag wurde gewichtelt. Marie hatte Jo ein Schokoherz gekauft. Und er? Als sie ihr Päckchen auspackte, grölte die ganze Klasse. Ein kaputter Vibrator für „Lehrers Liebling“!

Am letzten Schultag strömen alle in die Aula. Neunhundert Schüler bestaunen die Riesentanne mit den Paketen für arme Kinder darunter. Halleluja singt der Chor der Ehemaligen. Ritual und Tradition. Diesmal mit Feuerwerk. Ein Handy klingelt, und schon wirbeln Sänger, Äste, Kerzen durch die Luft. Wie vorgezogenes Silvester.

4.

„Alte Lieder, Dunkelheit, Bald ist es so weit!“ Es war so einfach. Internet sei Dank. Erst der Flirt, dann die Kalaschnikow. Ein volles Magazin. Drei Treppen und ein Flur. „Schöne Bescherung, Papa, jetzt ist Schluss mit Weihnachtsmann“, und sie entsichert die Waffe.

Adventskalender MiniKrimi vom 6. Dezember 2018


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Von drauß‘ vom Walde…….

„Du weißt, was du tun musst Schließ die Tür ab und mach auf keinen Fall auf, wenn du alleine bist, kapiert?“ „Ich bin doch kein Baby. Ich bin schon fünf. Und ich bin auch nicht dumm. Ich weiß genau, was ich machen muss, wenn ich allein bin. Und wenn ein Einbrecher kommt und die Tür mit einer Bombe aufmacht, dann nehme ich mein Jedi-Schwert und mache so! Und zack ist er tot, der EInbrecher.““

„Ja. Schon klar. Du nimmst dein Jedi-Schwert. Aber trotzdem, für den Fall, dass ein Einbrecher kommt – es kommt ja vielleicht gar keiner, also ganz sicher, glaube ich. Aber für den Fall dass doch einer kommt, und wenn dann dein Jedischwert nicht funktioniert“ 

„Mein Jedischwert funktioniert immer!“

„Schon klar. Aber wenn es plötzlich doch nicht funktioniert, dann schau her, dann nimmst du das hier.“

„Aber das ist doch das Messer aus der Küche, das wir nicht nehmen dürfen. Das japanische, das vom Papa.“

“Genau. Es ist japanisch, das ist wie von Master Yoda. Ok?“

„Ela, ich will nicht, dass du weggehst. Die Mama hat gesagt, wir sollen beide daheim bleiben, bis sie von der Arbeit kommt. Du sollst mich nicht allein lassen, hat die Mama gesagt. Und später kommt der Nikolaus.“

„Ach mach kein Aufstand. Ich bin nur kurz drüben bei der Lara. Oder hast du Angst? Du bist ja doch noch ein Baby!“

„Nein bin ich nicht. Geh weg!“

„Ok. Ciao, Kleiner.“

Max setzt sich in seinem Zimmer auf den Boden. Die Kartons sind noch nicht alle ausgepackt. Er fühlt sich gar nicht zu Hause, hier in der Wohnung in der Minervastraße. Er wäre lieber in Schwabing geblieben. Aber er weiß, dass das nicht geht. Mama und Papa sind zwar noch seine Eltern, und Elas. Aber sie sind nicht mehr zusammen. Deshalb kann Mama nicht mehr in Schwabing wohnen, und er und Ela auch nicht. Mama will das so. Jetzt wohnen sie in einer ganz neuen Wohnung. Er hat ein eigenes Zimmer, nicht mehr mit Ela zusammen. Und Mama hat auch ein Zimmer. Mit Frank. Frank ist der neue Papa. Aber Max weiß nicht, was er davon halten soll. Er hat doch schon einen Papa. Vom Fenster aus kann er die Berge sehen, wenn der Himmel klar ist. Ob er den Nikolaus sehen kann, wie er durch die Wolken fliegt? Oder machst das nur der Weihnachtsmann? Es wird dunkel, und Max hat Angst. Die Wohnung ist voller Geräusche, nichts ist vertraut. Draußen kann er den Aufzug hören. Manchmal knallt eine Tür. Dann ist alles still. Wann kommt Ela? Und Mama? Und der Nikolaus?

Da klopft es an der Tür. „Ich bin der Nikolaus. Bist du der Max?“

„Ich darf die Tür nicht aufmachen, hat Ela gesagt. Geh weg und komm zurück, wenn Mama und Ela wieder da sind!“

„Aber Max, ich bin der Nikolaus. Vor mir brauchst du doch keine Angst zu haben!“

Doch, denkt Max. Und zur Sicherheit holt sein Jedischwert. Und das japanische Messer, so, wie Ela es ihm gesagt hat. Der Nikolaus kann warten, aber wenn da draußen ein Einbrecher ist, wird Max sich wehren.

Da hört er, wie sich etwas am Türschloss bewegt. Der Einbrecher, denkt Max. Jetzt bricht er die Tür auf, wie in den Filmen, die er nicht sehen darf.

Da, jetzt wird die Wohnungstür langsam geöffnet. Draußen im Flur ist es genauso dunkel wie in der Wohnung. Max sieht nur Umrisse, ein großer schwarzer Mann in einem langen Kampfumhang. Der Feind der Jediritter! Max umklammert das Messer mit beiden Händen und rammt es dem Mann in den Bauch. Max ist stark.

Frank stirbt auf dem Weg zum Krankenhaus. Er sollte Max und Ela als Nikolaus die Geschenke bringen. So war es ausgemacht. Aber Ela hatte ihr Gründe, sich nicht daran zu halten. Das Problem Frank war gelöst.

Österliches Miniatur-Memory


Karfreitag 1989

Es ist ungewöhnlich heiß, und ich habe mich mit ausgeblasenen Eiern, Aquarellfarben, Pinseln und den Birsteiner Nachrichten von letzter Woche auf den Balkon verzogen. Weit genug weg von meiner Mutter, die mir immer noch nachträgt, dass ich sie nicht zum Karfreitagsgottesdienst begleitet habe. Jetzt tut es mir leid, und ich hätte ihr gerne gesagt, dass ich sie nicht hatte verletzen wollen, aber gleichzeitig auch keine Lust gehabt hatte, mir selbst weh zu tun. Denn das von getragenen Orgelakkorden untermalte „Haupt voll Blut und Wunden“ trägt für mich die Gesichtszüge meines Vaters, und da ich ihn auch 7 Jahre nach seinem Tod noch nicht beweinen kann, bleibt mir die Trauer wie ein Kloß im Hals stecken und verklebt mir den ganzen restlichen Tag.

Nachdem ich das obligatorische alljährliche Osterei bemalt habe, zeige ich es als Widergutmachungsversuch meiner Mutter. Sie runzelt die Stirn und sagt nichts. Das ist ihr Beitrag zur Versöhnung. Denn diesmal, ich befinde mich in der akuten Phase meines Feminismus, wackeln aufgeregte, der Sichtbarkeit halber violett umrandete Hühner über die Schale und fordern auf Plakaten „Mein Ei gehört mir“, „nieder mit der Massentierhaltg.“ Für das ganze Wort ist das Ei – es stammt übrigens von einer der drei Hennen des Bauernhofs schräg gegenüber – leider zu klein.

Den restlichen Nachmittag verbringe ich mit meinem neuen Freund und seiner Clique beim Metonkel. Wir lassen den verrosteten Opel am Ende des Forstwegs stehen, halb im Graben, damit der Förster noch vorbeifahren kann. Dann laufen wir durch ein sehr hellgrünes, nach Waldmeister duftendes Wäldchen hinunter zur Lichtung, auf der der schrullige Alte vor seinem Wohnwagen einen Biertisch und zwei Bänke aufgebaut hat. Der Met kostet eine Mark und wird aus einer dunklen fettfleckigen Flasche in Gläser geschenkt, die einen schmutzig braunen Rand haben und einen Bodensatz aus Staub und Dreck. Ich habe kurz Angst, mich anzustecken, weiß aber nicht, mit welcher Krankheit. Also lächle ich meinen Freund an und kippe den Met in einem Zug runter. Nach dem zweiten Glas und dem gemeinsamen Joint ist die Angst dann auch verschwunden.

Always look at the bright side of life – oder death, singen Monthy Python. Ein Metschwamm wäre gut gewesen, für Jesus, denke ich. Oder ein Joint. Am besten beides.

Ostersonntag 2018

„Mein österliches Beileid“ hat der Monsignore uns gewünscht, als meine Mutter kurz nach Ostern starb. Ein knappes Jahr und eine Katharsis später beantworte ich das leise Lächeln, das sie mir vom Foto auf dem Intarsientablett unter den bunten Tulpen zuwirft. Die Trauer hat sich aufgelöst und den Blick freigegeben auf unzählige unverhoffte Miniatur-Momente. Die Erinnerung schiebt sie mir vors Auge wie ein Damals-Dia. Ich schaue hin und wieder weg. Dann kommt irgendwann das nächste. Oder einem Erbstück, Schrank, Bild,  Recamiere, entströmt ein leiser Hauch, und dazu malt unser Gedächtnis uns das ganze Bild, komplett mit Gefühl und allem Drum und Dran:

Die Angst meines Sohnes vor dem dunkelbraunen Treppenhaus und davor, dass aus der auf halber Höhe eingelassenen ziselierten Dachbodentür etwas sehr Böses herausspringen würde. Etwas, das den Weg aus den metaphysischen Bildern meines Vaters, seines Großvaters, die in Salonhängung das Treppenhaus mit menschenähnlichen Baumfiguren in leuchtenden Ölfarben bevölkerten, in die Welt des Hauses gefunden haben könnte.

Die Gestalt meines Vaters, in der rechten Hand das dickwandige Glas mit Whiskey und zu löchrigen Quadraten geschmolzenem Eis, wie er mit der Linken die Schicksalsschläge der Eroika dirigierte, während  die Asche der Peter Stuyvesant auf den Wohnzimmerteppich segelte. Beethoven nachts um halb drei war für mich als Zehnjährige an der Tagesordnung.

Die Stimme meiner Mutter mit irgendeinem Kommentar, von treffend zu Nonsense driftend mit dem Fortschreiten der Demenz. „Du könntest in einem Drei-Sterne-Lokal kochen.“ Oder, zum Enkelsohn: „Du wirst ein fantastischer Arzt.“ Heute hören wir die Stimmen, riechen Zigarettenahnung, spüren Gänsehaut.

Und leben weiter. Sehen weiter, über den Karfreitagshorizont hinaus.

Frohe Ostern!

Adventskalender-MiniKrimi am 11. Dezember


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Wehret den Anfängen

„Wie konnte es nur so weit kommen?“ Ernest steht auf dem schneebedeckten Hügel, kaum mehr als eine Armlänge von dem Jungen entfernt. Dunkelheit umhüllt ihn, aber der Junge würde ihn nicht sehen, auch, wenn er direkt neben ihm stünde.

Er hat einen schwarzen Umhang um seine mageren Schultern gehängt, dicht an dicht mit Rabenfedern benäht. Wo er die her hat? Sein rußgeschwärztes Gesicht ist von einer grellroten Maske verdeckt. Seine Füße und Arme sind mit Lederfetzen umwickelt. Kerzengrade reckt er sich in die Winternacht. Sterne am Himmel, ausgestreut wie Diamanten auf einem Tuch. Welche Verschwendung. Die Menschen am Fuß des Hügels haben keinen Blick für die Mittwinterschönheit. Lachend und johlend drängen sie sich um den mannshohen Scheiterhaufen, seine Flammen vertreiben Dunkelheit und Kälte. Bierflaschen klirren, Zigaretten glimmen. Immer wieder stimmt jemand ein Lied an und bricht ab, als niemand mit einstimmt.

Fast kann Ernest den Jungen verstehen. Er war genauso, früher. Voller Verachtung für alles, was auf der Oberfläche des Lebens dahintrieb, ohne jemals zu versuchen, dessen Tiefen auszuloten. Ja, er kennt das Gefühl. Aber er hat sich von ihm doch nie beherrschen lassen, und nie hat er so auf einem Hügel gestanden, ein wütender Rächer ohne Aufgabe.

Jetzt hebt er die Arme, in einer Hand hält er den Bogen, in der anderen den Pfeil. Er legt an, nimmt Witterung auf, ein wildes Tier auf seinem Beutezug. Die Knie fest, nicht durchgedrückt. Der Oberkörper gerade und leicht nach vorne geneigt.  Der Bogenarm durchgedrückt und eingedreht, die Hand um 90° geneigt.

Ernest kann es nicht fassen. Der Junge vor ihm zielt auf die feiernden Menschen dort unten. Auf die Winterwendtänzer am Feuer. Zu seinen Füßen liegen über ein Dutzend Pfeile. Er hat diesen stummen Amoklauf lange geplant.

„Nein!“ ruft Ernest und will auf den Jungen zuspringen. Seinen Arm runterreißen, Den Bogen zerbrechen. Aber er ist angewachsen auf dieser nächtlichen Wiese. Und seine Schreie sind stumm. Und so muss er zusehen, wie dieser Junge, sein Sohn, unschuldige Menschen tötet. Aus Wut? Oder aus Verzweiflung. Ganz sicher aber, weil er, Ernest, als Vater versagt hatte. Ich habe Dich nie gewollt! Ich wusste genau, dass aus Dir nur genau das werden konnte, was Du jetzt bist. Ein…. MÖRDER.

„Ich bin der Vater eines Mörders! NEIN! NEIN! Das darf nicht sein!“ Endlich lösen sich die Schreie aus seiner Brust. Er wirft sich nach vorne.

Und landet auf dem Fußboden. „Sag mal spinnst Du?“ Vera liegt bäuchlings auf dem Bett, funkelt ihn wütend an. „Was tust Du da unten? Du hast wohl keine Lust, mit mir zu schlafen?“ Ich will einen Mörder aufhalten, denkt Ernest. Und die todsichere Methode ist, die Kondome aus der Hosentasche zu holen. Damit es garantiert nie so weit kommt!