Ein Beispiel für Mitmenschlichkeit


Diese Geschichte hat sich während des schweren Gewitters am Sonntag, dem 9. August 2010 etwa gegen 18.40 Uhr in München- Moosach zugetragen. Ungefähr eine halbe Stunde vorher war ich mit meiner 85-jährigen Mutter und unserem Hund zu einem Spaziergang in die nahe gelegene Angerlohe aufgebrochen, ein Waldgebiet am Stadtrand zwischen Untermenzing und Moosach. Meine Mutter kam langsamer voran als gedacht, und um dem Gewitter zu entkommen, dass sich im Westen drohend aufbaute, versuchten wir, den Heimweg durch die ehemalige Mondscheinsiedlung an der Waldhornstraße abzukürzen. Leider waren wir nicht schnell genug. Das Unwetter holte uns kurz vor dem Erreichen der Lauinger Straße ein. Wir suchten Unterschlupf unter einem Baum.
Der Regen peitschte, Hagelkörner prasselten auf uns herab, in kürzester Zeit standen Straße und Bürgersteige unter Wasser, Bäche gurgelten auf überquellende Gullis zu, kleine Wellen umspülten unsere Füße. Trotz Schirm war meine Mutter sofort pitschnass. Mit jeder Windböe, die durch die Straße fegte, bekam sie einen neuen Wasserguss ab. Als zumindest der Sturm nachgelassen hatte, gingen wir ein Stück weiter. Wir wollten schnell nach Hause, denn der Himmel war schwarz, Blitze begannen zu zucken, und wir fürchteten, vollends in das Gewitter zu geraten. Als wir an der Bushaltestelle Dillinger Straße vorbeikamen, dachte ich ganz kurz daran, auf den nächsten Bus zu warten. Aber wir hatten kein Geld dabei! Und, entgegen meiner Angewohnheit, diesmal auch kein Handy!

Wir kämpften uns also weiter durch das Wetter. Und dann schälte sich aus dem Regenschleier hinter uns tatsächlich der Bus heraus! Ich zögerte kurz, doch dann winkte ich durch die beschlagenen Scheiben der Busfahrerin. Zunächst schien sie die Türen gar nicht öffnen zu wollen. Ans Aussteigen hatte bei dieser Sintflut keiner der Fahrgäste gedacht. Als sie dann doch auf den Türöffner drückte, sprang der Hund sofort in den trockenen Gang.

Durch den prasselnden Regen und das Motorengeräusch rief ich ihr zu: „Können Sie uns vielleicht ein oder zwei Haltestellen mitnehmen, bitte? Wir haben kein Geld dabei. Aber meine Mutter ist total nass und fertig. Sie würden ihr wirklich sehr helfen…“

Die Busfahrerin, blond und beneidenswert trocken, schaut mich an. Schaut auf meine Mutter. Sie sieht eine alte Dame in aufgeweichten Lederschuhen, mit tropfender Regenjacke und nassem, weißem, am Kopf klebendem Haar, die sich mühsam am Schirm festklammert und vor Müdigkeit leicht schwankt. „Steigen Sie ein,“ sagt sie in russisch gefärbtem Deutsch. „Wenn Kontrolle kommt, zahle ich für Sie“. Kurzstrecke, ein Euro zwanzig pro Person. „Ich bringe es Ihnen sofort wieder. Sagen Sie mir nur, wohin ich fahren soll.“ „Ist schon gut“, antwortet die Busfahrerin und lächelt. „Steigen Sie schon ein.“

Eine nette, eine menschliche Geschichte! Leider hat sie sich nicht ganz so zugetragen. Die Busfahrerin schaute sich meine Mutter an, musterte sie von ihrem trockenen, erhöhten Fahrersitz ausgiebig und sagte dann zu mir in östlich gefärbtem Deutsch sinngemäß und mit herabgezogenen Mundwinkeln: „Wenn Sie schwarzfahren wollen, dann Ihre Sache. Machen Sie, wie Sie wollen. Kann ich nix anderes sagen.“ Worauf meine Mutter, die in ihrem ganzen rechtschaffenen Leben noch nie schwarz gefahren ist, entsetzt die Augen aufriss und weiter durch den Regen stolperte. Eine gute halbe Stunde später waren wir zu Hause. Ich habe meiner Mutter einen Cognac gegeben. Sie hat sich völlig erschöpft ins Bett gelegt. Hoffen wir, dass sie diese Geschichte unbeschadet übersteht.

Ich habe mich den ganzen Abend gefragt, ob die Busfahrerin sich wohl an das Gesicht meiner Mutter erinnert hat, später. Ob sie ihre Reaktion in Frage gestellt hat. Ob sie anders hätte reagieren können, so, wie in der ersten Version meiner „Geschichte“, zum Beispiel. Ja. Das hätte sie. Auch das habe ich nämlich schon gehört. Von meinem Sohn, den ein Busfahrer „so“ mitfahren ließ. Aus Menschlichkeit.

Davon hätte seine Kollegin auf der Moosacher Buslinie 162 sich eine große Scheibe abschneiden können! Was meinen Sie?

2 Antworten auf “Ein Beispiel für Mitmenschlichkeit”

  1. ich finde es toll, dass dieses thema mal angsprochen wird……menschlichkeit sehe ich in diesem verhalten der busfahrerin nicht, jedoch enspricht es der realität. Es ist sehr schön geschrieben! Lg, S.K

    1. Hallo S.K,
      danke für deinen Kommentar! Ja, auch ich finde, dass die Busfahrerin einen Spielraum gehabt hätte, den sie leider nicht genutzt hat. Ich habe keine Zeit gehabt, zu schauen, ob Fahrgäste in unmittelbarer Nähe der Tür gesessesen und die Szene miterlebt haben. Ich hätte als Fahrgast wahrscheinlich spontan meine Hilfe angeboten……! Ich bemerke schon seit längerem ein Erkalten des Sozialen Klimas, das einhergeht mit der immer weiter absinkenden Sozialen Kompetenz (man könnte auch sagen, mit einem Mindestmaß an „Erziehung“). Schade!
      Herzlich, Mariebastide

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