Haben Sie heute schon geviewt? Ich wohl.
Beim Milchholen die Straße entlang. In’s Nachbarfenster. Über den frisch gestrichenen Balkon durch die schrägen Rolläden hindurch. In’s Blumenschaufenster.
Beim E-Mail-Lesen. Auf ein Wohnhaus in Washington, dessen Street-View-Bild mir jemand gemailt hat, weil es in ihm Reminiszenzen an vergangene Leben aufwühlt.
Bei Google-Maps. Ich war auf dem Boul Mich und habe eine dicke Frau – nicht Dame – hinter einem Laternenpfahl hervorplatzen sehen. Für immer bis zur Fotoaktualisierung. Ich habe gesehen, woher die labbrigen Weichkuchen kommen, die im Münchner Hauptbahnhof angeboten werden, die Heimstatt der Brioche Dorée.Ich habe Genugtuung empfunden angesichts meiner Ratlosigkeit, als ich Streetview testen und irgend eine Adresse eingeben wollte. Ratlos, weil ich nicht wusste, was ich mir würde ansehen wollen.
Nun sind wahrscheinlich nicht alle so wenig voyeuristisch veranlagt wie ich. Mag daran liegen, dass ich lieber lese als schaue. Mehr Infor möchte als bunte Bilder.
Ich habe den Antrag verschickt, mit dem ich mein Haus für Streetview sperren lassen kann. Und habe mit Entsetzen vom Vorhaben eines deutschen Fotografen gelesen, alle gesperrten Häuser zu fotografieren, um den öffentlichen Raum zu verteidigen“. Ich fühle mich außer Stande, den allein durch das Wort öffentlich nicht klar zu umreißenden Raum zu verteidigen. Ich kann nichts verteidigen, dessen genaue „Daten“ ich nicht kenne, um im digitalen Jargon zu sprechen. Ich kenne aber meinen Raum. Und obwohl ich mehr anhabe als einen Lendenschurz, obwohl ich nicht mit einer Rifle die Wachrunden ablaufe, obwohl ich keine Kameras an meiner Dachkante montiert habe, habe ich das Bedürfnis, die Hoheit über diesen Raum zu behalten, in dem maximalen mir zur Verfügung stehenden Maße.
Ich kann nicht bestimmen, wer die Straße entlangläuft. Stehenbleibt. Mein Haus betrachtet. Ich kann nicht einmal meine Nachbarn daran hindern, im Fenster zu liegen, auf ein Kissen gestützt, und zu beobachten, was hinter unseren gardinenfreien Scheiben vor sich geht. Warum auch? Den Nachbarn winke ich freundlich zu. Da schließt sich das Fenster. Den Gaffern vor dem Zaun biete ich meine Hilfe an. Schon beschleunigen sie ihre Schritte.
Und das ist es, was mich an Streetview stört. Nicht die unschuldigen Routenplaner. Deren Aufmerksamkeit übrigens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie meiner winzigenSpielstraße gelten wird.
Ich zeige mich und das meine gerne – denen, die sich ebenso offen und gezielt mir zeigen. Und ich halte Streetview für ein unter Umständen gefährliches Angebot an weltweiten Voyeurismus. Schauen, um nicht gesehen zu werden. Im schlimmsten – und hoffentlich nicht meinem – Fall, um auszuspionieren.
Seit ich zum ahnungslosen Opfer einer psychopathischen Stalkerin wurde, bin ich vielleicht sensibler gegenüber den Gefahren der allzu leicht gemachten Einladung des „public privat viewings“ als Menschen, die, harmlos genug, erst einmal glücklich sind, ihr Urlaubsziel schon Wochen vorher virtuell durchstreifen zu können. Wobei ihnen dann doch alles sehr vertraut vorkommen wird, bei der realen Ankunft.
Ich finde Geheimnisse spannend. Und schön. Und möchte noch viele lüften können.
Ich finde, Streetview sollte sich auf öfffentliche Plätze beschränken. Sollte die Personen schützen. Die 100-Zentner-Frauen und die nasebohrenden Männer. Ich finde, Streetview sollte virtuell die Lust auf reale Entdeckungen wecken, statt alles schon vorweg zu nehmen. Es würde zwar viel mehr kosten als die Fotos, aber technisch möglich wäre auch die virtuelle Nachbildung der Straßen. Wenn es wirklich um einen Service für Reisende ginge, um einen dreidimensionalen Stadtplan, wie Google seinen Dienst bezeichnet. Wenn es darum ginge. Und wenn nicht????