9. Dezember: Mordsgedanken


Es schneit! Der Wind treibt dicke weiße Flocken waagerecht vor sich her. Winzige Geschosse, die Eva gezielt in die Augen jagen. Das Wartezimmer ihres Hausarztes ist witterungsentsprechend voll und dampft dumpf aus feuchten Mänteln, Schirmen, Teppichen. „Darf ich mal kurz da Fenster aufmachen?“ fragt Eva. Und erntet wütend bis verhaltenen Protest. „Wollns dass mir alle krank wern?“ fragt ein adipöser Mann mit offensichtlichem Bluthochdruck. Als Eva endlich an der Reihe ist und dem Arzt in sein Behandlungszimmer folgt, schwirrt ihr der Kopf. Früher hat sie das alles besser weggesteckt. Die Kinderschreie und die sauertöpfischen Gesichter, das Gekicher und Geschwätz. „Ich bin alt, Herr Doktor“, sagt sie. „Ja, das stimmt. Aber Ihr Alter steht Ihnen wirklich gut!“ „Charmeur! Ich möchte wirklich wissen, wie gesund ich bin. Oder wie krank.“ Auf den Arztblick legt sich sofort ein analytischer Schleier. „Irgendwelche Beschwerden?“ „Nein, nichts Akutes. Aber, naja, Sie wissen ja…“ „Wie geht es Ihrem Mann? Sind Sie sicher, dass Sie das schaffen, mit der Pflege?“ Eva richtet sich kerzengrade auf im Stuhl. „Auf jeden Fall. Mein Mann geht in kein Krankenhaus. Und auch in keine Palliativstation. Wir bleiben zusammen. Bis zum Schluss!“ Der Arzt ist klug genug, nichts zu erwidern. Er schaut sie nur still an. Still und sehr intensiv. „Ja, und deshalb wollte ich wissen, ob mir mir alles ok ist. Ganz ehrlich, Herr Doktor, ich wüsste gerne, wie lange ich selbst noch leben werde. Also, theoretisch. Wenn mein Mann dann tot ist.“ „Warum?“ Nur dieses eine  kleine Wort. Und dazu der stille, tiefe Blick. Fast hätte Eva es ihm gesagt. Beinah hätte sie ihm Adams und ihren Plan anvertraut. Im letzten Moment beißt sie sich auf die Zunge. Senkt den Blick. Der Arzt spürt, dass ihm gerade etwas auf ausgestreckten Händen hingehalten worden und dann ganz schnell zurückgezogen worden war. Nein. Ich kann ihm nicht erzählen, dass wir uns überlegen, welches Verbrechen ich begehen muss, um nach Adams Tod bis zum Ende meiner eigenen Tage warm und sicher aufgehoben zu sein, im Gefängnis. Ich kann ihm nicht erklären, dass unser letztes Geld mit Adams Pflege Tag für Tag verrinnt. Dass es für mich weder die Wohnung noch einen Platz im Altenheim geben wird – außer in einem Mehrbettzimmer neben keine Ahnung welchen alten Weibern. Dann schon lieber eine Einzelzelle mit Vollpension. Nur – wie komme ich dahin? Erst einmal muss sie wissen, welches Strafmaß sie anstrebt. Adam hat ganz recht. Planvoll muss es angegangen werden, dieses erste und letzte Verbrechen ihres Lebens.

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