Die Hitze auf dem Rollfeld trifft Mia wie ein Faustschlag. Auf dem kurzen Weg zum Shuttlebus ist sie nassgeschwitzt, Schweißperlen hängen in ihren Wimpern wie Regentropfen, die Bluse klebt an Rücken und Bauch, als sei sie durch einen Monsun gelaufen. Hektische Geschäftigkeit überall, vor dem Flughafen, auf den Straßen. Normalität liegt wie ein Veneer über der Stadt. Darunter schwelt der Ausnahmezustand, wird nur dem aufmerksamen Zuschauer erkennbar, am Flackern in den Augen der Frauen, wenn sich ihre Blicke treffen, an der hastigen Bewegung eines Händlers, wenn ein Mann auf einem Mofa dicht an seinem Stand vorbeiknattert. Deutlich dann an großen Kreuzungen, auf denen Sicherheitskräfte patrouillieren, die entsicherten Waffen im Anschlag.
Mia hat es eilig. Sie fährt direkt zu der Adresse, die ihr Lou am Vorabend ihrer Reise, ihrer letzten Reise, aufgeschrieben hat. Ein Viertel in den Außenbezirken der Stadt. Der Weg führt durch ausgebombte Straßen, Ruinen säumen den staubigen Weg, immer weniger Menschen begegnen ihrem Taxi. Dann verändert sich die Landschaft. Ein grüner Hügel, akkurate Mauern, kleine Häuschen. Über ihnen thront ein halb zerstörtes Kirchlein. Am Fuß der steilen Gasse stoppt der Fahrer. Twenty Dollars, nuschelt er, und Mia zahlt, ohne zu diskutieren, den viel zu hohen Preis. Soll er seiner Familie doch ein Festmahl gönnen, mit dem Geld. Schließlich ist heute Ostern.
In der Mittagsglut ist jeder Schritt bergauf die reinste Qual. Mia schleppt sich vorwärts, gedankenlos, getrieben von Gefühlen ohne Namen. Links neben der Kirche lehnen sich rostige Kreuze an einen schartigschroffen Felsen. Das muss der Friedhof sein. Mia stößt das Eisengitter auf und geht die Grabreihen entlang. Knirschender Kies unter ihren Schuhen, schrille Vogelschreie über ihrem Kopf. Ansonsten Stille. Ganz hinten, halb in den Fels gehauen, findet sie ein offensichtlich frisches Grab. Im Schatten kniet sie sich daneben, schaut hinein. Hastig aufgeschüttete Erde, die Mia mit den Händen aufhebt und beiseite wirft. Trockene Krumen, die kaum an ihren Fingern kleben. Sie scharrt und schaufelt. Und sie findet nichts. Über ihr ziehen die Vögel höhnende Kreise. Da steht sie auf und geht.
Vor einer unscheinbaren Pforte in der Backsteinmauer hält sie an. Klopft. Drei Mal. Dann wieder. Eine von Kopf bis Fuß in graues Leinen gehüllte Gestalt öffnet die schwere Tür einen Spalt breit, nicht mehr als notwendig, damit Mia sich und ihre Tasche hindurchzwängen kann. Ohne sie auch nur mit einem Blick zu streifen, geht der Mensch, Mia kann nicht erkennen, ob es ein Mann ist oder eine Frau, ein junger Mann oder ein Mädchen, ihr voran. Führt sie durch einen Kreuzgang, der einen blühenden Innenhof mit Mango- und Feigenbäumen umschließt. Mia ist überwältigt von den Düften, die ihr auf dem Schattenweg entgegen schweben. Minze, Rosmarin, Lavendel. Aus dem Innern des Gebäudes dringt mit dem Klappern von Geschirr ein Hauch von Berberitze und Zitrone. In einem kleinen Raum stehen ein runder Tisch, vier Stühle und ein Samowar. Tschai, flüstert die Gestalt, drückt ihr ein Glas mit dampfendem Minztee in die Hand und lässt sie allein.
„Da bist du ja, mein Liebling“. Lou legt Mia von hinten die Arme um den Hals, schmiegt ihre Wange an ihr feuchtes Haar. Legt ihr, der tausend Fragen auf den Lippen brennen, sanft den Finger auf den Mund.
„Schau mal, so war es doch das Beste. Sven hätte mich nie gehen lassen, oder? Ich habe meine Konten vor dem Abflug aufgelöst. Hier lebt es sich nicht nur gut und lange, hier können wir uns eine neue Existenz erkaufen. Und endlich zusammen sein.“
„Ich dachte, du bist tot. Ich habe alles stehen und liegen lassen, um dein Grab zu suchen. Und jetzt steht du hier vor mir und hast uns einfach ein neues Leben ausgemalt. Ohne mich zu fragen. Lou! Ohne …. mich… Ich denke, du bist tot. Für mich.“