
ES
Über Nacht ist es kalt geworden. Auf roten Häuserdächern glitzert Raureif, Hecken und Bäume sind weiß gepudert. Sehnsüchtig strecken schwarze Bäume kahle Silberäste nach einer noch unsichtbaren Sonne. In der Luft liegt die Erinnerung an ein erloschenes Streichholz, sonst nichts. Der Frost nimmt der Welt ihre Gerüche. Deshalb hasste ES den Winter. Bis zu diesem Jahr.
Wege knirschen unter seinen Schritten, als ES in den frühen Morgenstunden mit der Jagd beginnt. Von außen betrachtet ist ES ein mittelgroßer Mensch in dunklen Jeans und Parka mit auffällig großem Pelzbesatz. Das ist allerdings das einzige Merkmal, das einem Betrachter ins Auge stechen würde. Alles andere an ihm scheint Durchschnitt. Dem ist zwar nicht so, aber es kommt ihm zweifelsohne zugute, dass ES dafür gehalten wird.
An der Straßenecke, hinter der sein Transporter geparkt ist, wird ES förmlich umgeworfen von einem Geruch, den ES so noch nie wahrgenommen hat. Nachthaut, MakeUp-Reste, Kaffee, Zimtschnecke und Cornichons in einer vollkommen ausgewogenen Mischung. ES bleibt stehen, dreht sich um. Nichts. Blickt nach rechts. Niemand auf dem Zebrastreifen. Blickt nach links. Aus einem Hauseingang weht noch der Zipfel eines grünen Wollmantels. ES bewegt sich betont langsam, keine Aufmerksamkeit weckend. Zehn Namen. ES riecht den richtigen, ohne sich dem Schild zu sehr zu nähern. Lächelnd geht ES den Weg zurück, steigt in den Transporter und beginnt seine tägliche Jagd.
Eines seiner Opfer hatte ES beschuldigt, ein Psychopath auf den Spuren von Grenouille zu sein. Natürlich hatte ES das Parfum gelesen. Und ja, gewisse Ähnlichkeiten sind nicht zu leugnen. Aber sie sind ja so oberflächlich. Denn ES braucht keine Menschen zu töten, um ihnen in komplizierten Prozeduren den Duft von der Haut zu stehlen. Und schon gar nicht will ES sich in das perfekte Parfum hüllen, um bemerkt oder gar geliebt zu werden. Nein, ES ernährt sich von den Düften und Gerüchen von Menschen und ihrer Umgebung.
Im Sommer war das kein Problem. Morgens genügte ihm schon der Spaziergang durch eine kleinere Einkaufsstraße als Frühstück. Passanten auf dem Weg ins Büro, eingehüllt in ihre Wolke aus Duschgel, Shampoo, Waschmittel und Weichspüler, zuweilen Mottenkugeln, Schuhcreme, und das alles eingebettet in die einzigartige Komposition der Ausdünstungen ihrer Haut, ihrer Körper. Dazu Backwaren, Kaffee, Tee, der Teer der Straßen, der Beton der Häuser. In der Rush-Hour musste ES oft fluchtartig einen menschenleeren Ort aufsuchen, wo nur Gras und die Gerüche der Tiere, Mäuse, Kaninchen, Vögel, Würmer ES sanft umspielten, um dem olfaktorischen Overkill zu entgehen.
Anders im Winter. Da entzieht die Kälte der Luft jeden Duft. ES hat lange Phasen akuten Hungers durchlitten. Letztes Jahr hat ES sich als Weihnachtsmann verdingt, um zumindest am Heiligen Abend sein Festmahl zu sichern. Die Zeitungen berichteten nach den Feiertagen von etlichen Familien, die auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen waren. Bei niemandem konnte allerdings ein Fremdverschulden festgestellt werden.
Dieses Jahr jedoch leidet ES keine Not und legt sich jede Nacht satt und zufrieden zur Ruhe. ES hat die Werbung eines großen Online-Versands gesehen. Fahrerinnen und Fahrer, die Pakete in jede Stadt, in fast jedes Haus tragen. Und alle freuen sich. Sogar die Pakete. ES hat sich ohne zu zögern beworben und wurde sofort eingestellt. Nun fährt es den ganzen Tag von Tür zu Tür, beladen mit allem, was die Menschen vor Weihnachten bestellen und kaufen. Von der Villa mit buchsbaumgesäumter Auffahrt über das Reihenhaus mit Leuchtgirlanden bis zur Mietswohnung, aus der Kinder in allen Größen herausquellen und der Fischgeruch das Treppenhaus füllt, ist alles dabei. ES braucht nur auszusuchen und sich zu bedienen. Kokosduftendes Mädchenhaar, Pfeifen- oder Zigarrenodeur? DieVielfalt der Besteller*innen ist grenzenlos.
Aber heute hat ES auf all das keinen Appetit. Immer wieder denkt ES an das Wesen mit der ausgewogenen Mischung aus Morgendüften. Als die Nacht auf die Straßen sinkt und die Lichterketten nur leise glänzen, fährt ES zu ihrem Haus. Parkt vorschriftsmäßig – wie immer – und klingelt. „Ihr Paket“. Sie hat keines bestellt, trotzdem flötet sie „danke“ und öffnet die Tür.
ES drückt ihr das Paket in die Hand, seine Finger zittern vor Hunger und Lust. Hier ist der Geruch von heute morgen fast überwältigend. ES atmet tief ein, ganz tief. Aber da ist sie schon in einem Zimmer verschwunden. „Komm nur“, lockt sie ihn. Und ES folgt ihr, wie hypnotisiert. ES greift nach ihrem Arm, lässt seine Nase über die Haut gleiten, betastet die feinen Härchen mit seiner Zunge. Und schreckt zurück. Nichts. Da ist absolut nichts. Kein Geruch! Wie kann das sein?
„Der Mantel gehört meiner Nachbarin. Ich habe ihn mir ausgeliehen, weil sie ihn seit Jahren nicht gewaschen hat. Der ideale Köder. Und jetzt setz dich und erkläre mir, wie du sie umbringst.“
„Ich bringe niemanden um!“ ES steht mit dem Rücken zur Wand. Will weg und kann nicht.
„Aber warum sterben sie, nachdem du an ihnen gerochen hast?“
„Das weiß ich nicht. Vielleicht können sie sich selbst nicht mehr riechen? Und werden zu einem geruchlosen Nichts? Vielleicht können sie ohne Eigengeruch nicht überleben? Weil niemand, auch sie selbst nicht, Notiz von ihrer Existenz nimmt? Aber dafür kann ich nichts. Und jetzt lass mich gehen. Du bist so wie sie – mit dem Unterschied, dass du lebst, als Mensch ohne Geruch.“
„Ich lass dich nicht gehen. Ich habe dich lange gesucht. Ich werde dich töten und mir deinen Geruch anziehen. Dann stehen mir alle Türen offen.“
„Du hast zu viel im „Parfum“ gelesen. Und doch zu wenig. Sonst wüsstest du, dass fremder Geruch nicht glücklich macht.“ Sagt ES und wacht auf.
Schon halb sieben! Höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen, der unter seinen Schritten knirscht. Um auf die Jagd zu gehen. Denn im Winter sind die Gerüche rar und die Suche dauert lange. Wie gut, dass ES als Paketausfahrer für den großen Online-Versand die Auswahl hat. Wen ES wohl heute „erriechen“ wird?