Adventskalender Minikrimi am 9. Dezember


Foto: 8Moments

Dieser Minikrimi wurde von Mona Moldovan geschrieben. Er ist eine Variation zum gestrigen Thema – Last Christmas und die Männer. Und Frauen… Danke, liebe Mona!

Die Weihnachtsfeier

Die Einladung liegt ganz unten in dem Stapel mit Weihnachtskarten, die sie aus dem Postkasten geholt hat. Christine will sie schon achtlos wegwerfen, als ihr Blick auf den Absender fällt. Den Namen der Steuerkanzlei in Grünwald kennt sie gut. Es ist der Name, den sie einmal zu tragen gehofft hatte. Wenn sie daran denkt, wie es dazu kam, dass es dann doch nicht dazu kam, versetzt ihr das immer noch einen Stich ins Herz. Sie erinnert sich an diesen Dezembernachmittag vor zwei Jahren, als sei es gestern gewesen.

Sie kam früher nach Hause, vollgepackt mit Geschenken. Leise schlich sie hinein, um die Geschenke zu verstecken, so dass Matthias sie nicht vor der Bescherung finden würde. Aber dann entdeckte SIE etwas, was sie nicht hätte finden sollen, und zwar ihn. Im Bett mit dieser Blondine, einer Kollegin… wie hieß sie nochmal?

„Das ist doch nun sowas von egal“, denkt sie. Aber das ist nur so dahin gedacht, egal ist es ihr immer noch nicht. Matthias zog unmittelbar danach aus, und sie verbrachte sehr traurige Weihnachten. Die Monate danach waren auch nicht leichter. Die Trennung, der finanzielle und gesellschaftliche Abstieg. Er war nun fest mit dieser Frau zusammen, der Kollegin und Steueranwältin. „Schwamm drüber“, versucht sie sich einzureden. Es klappt nicht.  

Wenige Tage später hat sie die Münchner Innenstadt kreuz und quer auf der Suche nach dem passenden Kleid für die Feier abgesucht. Am Ende findet sie es in einem großen, luxuriösen Kaufhaus. Rot, lang, sexy. Sie hat noch nie so viel Geld für ein Kleidungsstück ausgegeben, fast eine Münchner Monatsmiete. Leisten kann sie sich das eigentlich nicht, mit ihrem kleinen Gehalt als Angestellte im sozialen Bereich. Aber sie will Matthias zeigen, was er verloren hat. Aus Liebeskummer hat sie damals etliche Kilos abgenommen, die nur zum Teil wieder drauf sind. Ihre Haare sind jetzt auch blond. Und das Kleid steht ihr wirklich ausnehmend gut.

In den Tagen vor der Weihnachtsfeier hat es geschneit, und die großen Villen in Grünwald sehen aus wie auf einer Weihnachtspostkarte. Die Adresse findet sie schnell, Google Maps sei Dank, und zum Glück ist sie auch nicht weit von der Tram entfernt, sonst würde sie womöglich mit den geliehenen High Heels im Schnee steckenbleiben. Ein blutroter Teppich führt durch den verschneiten Garten zum Haus, links und rechts davon brennen Fackeln. Am Eingang zeigt sie die Einladungskarte mit dem goldenen Rahmen und dem mit Füller geschwungenen „M“ als Unterschrift. Der Portier verbeugt sich, nimmt ihr den Mantel ab und zeigt ihr den Bereich, wo Glühwein und Caipirinhas stehen. Der Caipirinha ist heiß und sehr stark. Und drinnen erst… überall laufen Kellner mit Tabletts voller Cocktails und Leckereien herum. Das ist schon ein Unterschied zu ihrem Büro, wo die Kolleginnen sich mit selbst gebackenen Plätzchen und Glühwein von Aldi eine kleine Feier nach der Arbeit organisieren müssen.

Sie weiß, dass sie nicht zu viel trinken sollte. Alkohol macht sie immer leicht aggressiv, sie bekommt Lust, sich zu streiten und etwas kaputt zu machen… Aber wie sollte sie den Abend sonst überstehen? Sie kennt niemanden und niemand ist daran interessiert, sich mit ihr zu unterhalten. Das teure Kleid ist hier eines von vielen, und die Männer scheinen nur Frauen interessant zu finden, die gerade der Pubertät entwachsen sind. An einer Mittvierzigerin hat offenbar niemand Interesse. Auch Matthias scheint sie nicht zu beachten. Sie hat ihn nur flüchtig gesehen, aber er hat sie offensichtlich nicht wahrgenommen. Und nun ist er ganz verschwunden. Die Blondine hat sie den ganzen Abend nicht zu Gesicht bekommen (und wie sie heißt, daran erinnert sie sich immer noch nicht). Vielleicht ist es besser so. Sie könnte sie immer noch umbringen, auch wenn das alles jetzt schon zwei Jahre her ist.

Nach dem dritten Cocktail (oder vielleicht nach dem vierten?) sucht sie eine Toilette, aber alle sind besetzt. „Vielleicht müssen sich die jungen Frauen ihre Cocktails nochmal durch den Kopf gehen lassen. Zu viel Alkohol ist schließlich nicht gut für die Figur“, denkt sie garstig. Und geht die Treppe hinauf. Im oberen Stockwerk ist es dunkel und merkwürdig still. Sie versucht, eine Tür zu öffnen. Abgeschlossen. Auch die nächste. Und die übernächste. Dann kommt sie zu einer, die einen Spalt offen steht. Dahinter hört sie unmissverständliche Geräusche. Sie erstarrt, als eine junge Frau mit langen roten Locken heraus kommt, aber die Frau sieht Christine nicht. 

Die Tür steht nun weit offen, und sie erkennt den Mann dort im Zimmer sofort.

Und er sie. 

„Matthias…“ flüstert sie. „Christine?…“ lallt Matthias. „Was zum Teufel machst du hier? Wer hat dich eingeladen? Willst du wieder eine Szene machen? Ich hab‘ echt keine Lust auf euch alte Schachteln, die letzte habe ich gerade letzte Woche abserviert…“  Er versucht, seine Hose zu schließen, hat aber sichtlich Schwierigkeiten. Und nun weiß Christine, dass sie die ganze Zeit falsch lag. Nicht die andere Frau ist an ihrer Misere schuld. Sie macht einen Schritt ins Zimmer, und noch einen, plötzlich steht sie vor diesem Schreibtisch. Sie streckt ihre Hand aus – und dann sieht Matthias den Brieföffner in ihrer Hand. „Nein! Christine! Ich hab’s doch nicht so gemeint…!“

Er schreit nur einmal, ganz kurz und zu leise. Unten hat der DJ grade Helene Fischer aufgelegt, und die Menge gröhlt: „Atemlos…!“

Als Christine durch die glänzende Winternacht in Richtung Tram spaziert, geht es ihr auf einmal sehr gut. Ein Arschloch weniger auf der Welt. Jetzt soll ihr erst mal jemand etwas nachweisen. Sie hat sich ja mit niemandem unterhalten, und niemand hat sie beachtet. Ab vierzig werden Frauen irgendwie unsichtbar. Manchmal ist das gut so. 

Aber eine Frage lässt ihr keine Ruhe: wer hat sie zur Party eingeladen? Dann erinnert sie sich auf einmal. Die blonde Frau, mit der sie Matthias damals erwischt hat, heißt Marlena. Ein geschwungenes M als Unterschrift auf der Einladung. 

Als sie in die Trambahn Nummer 25 steigt, summt sie leise „Last Christmas“.  

Adventskalender Minikrimi am 8. Dezember


Foto von Coyot

Last Christmas  – Ein Krimi von meiner Co-Autorin Lydia H.

Schon wieder!  Wenn sie dieses verdammte Weihnachtslied noch einmal hören müsste, würde sie…..

Leider war Katja so gar nicht in der Situation,  irgendetwas zu unternehmen.  Nicht mehr. 

„Last Christmas….“. und noch einmal.  Obwohl die Verkäuferinnen des großen Warenhauses sich mit der Geschäftsführung geeinigt hatten,  das Lied nur noch dreimal pro Stunde zu spielen,  erklang es alle 10 Minuten.  Die Kunden liebten es eben.  Auch Katja,  die bis vor einem Jahr mehrmals pro Woche als Kundin hier gewesen war, hatte es immer gemocht. Schließlich hatte dieses Lied sie seit seinem Erscheinen zu Weihnachten 1984 durch eine glückliche Jugend und später eine ebenso glückliche Ehe hindurch begleitet.  Behütet, gut situiert, mit zwei entzückenden Kindern gesegnet. 

Bis last christmas. und zwar wortwörtlich. Die Kinder, längst aus dem Hause,  verbrachten die Weihnachtstage immer noch in der heimischen Villa.  Ausgerechnet an Heiligabend, unter dem stattlichen Weihnachtsbaum, ließ Markus,  Katjas Ehemann,  die Bombe hochgehen. Für Katja nicht unerwartet,  wie sie sich eingestehen musste. Selbst für einen so erfolgreichen Schlagerproduzenten wie Markus waren es in den letzten Monaten  einfach zu viele Überstunden und Geschäftsreisen gewesen. Der wahre Grund hieß Michelle,  war süße 24 und im sechsten Monat schwanger.  

Katja hatte bei ihrer Eheschließung der Gütertrennung zugestimmt und war sogar dankbar dafür gewesen. Damals wollte Markus, der erfolglose Musiker, sie damit schützen..  Zumal Katja als erfolgreiche Lektorin für den gemeinsamen Lebensunterhalt sorgte. Dann wurde Markus als Produzent sehr erfolgreich,  die Kinder kamen und Katja gab ihren Job auf. Es fiel ihr nicht mal schwer.

Die Abwicklung der letzten 20 Jahre ging dementsprechend schnell. Katja musste die Villa verlassen. Während sie sich jeden Anspruch auf Unterhalt, geschweige denn auf einen Teil des beträchtlichen Vermögens, abschminken konnte, galt das nicht für ihr Äußeres. Stark geschminkt stand sie alsbald, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als Verkäuferin in der Kosmetikabteilung des Warenhauses, dessen geschätzte Kundin sie bislang war. Die Highheels hatte Katja gegen flache Schuhe getauscht.  Dennoch taten ihr die Füße nach 9 Stunden stehen weh. Und die offene oder auch versteckte Häme ihrer früheren Bekannten zu ertragen,  die sie nun bedienen musste,  war beschämend.

Endlich Feierabend.  Gerade in der Vorweihnachtszeit kostete der Job als Verkäuferin viel Kraft.  Begleitet von den letzten klängen der hundertsten Wiederholung von Last Christmas wurde Katja aus dem Kaufhaus hinausgespült, mitten in die überfüllte Fußgängerzone.  Sie schlängelte sich zwischen genervten Menschen und  Weihnachtsbuden bis zur befahrenen Kreuzung durch.  In 5 Minuten würde sie im Bus sitzen, auf dem Weg in ihr Einzimmerapartment  am Rande der Stadt. Sie erkannte Markus‘ Wagen sofort am personifizierten Nummernschuld: M-BIG 1. Und daran, dass er ohne abzubremsen auf die inzwischen für ihn rote Ampel zufuhr – immer auf der Überholspur, eben. Und dann stand da neben ihr diese blonde Frau im pinkfarbenen Pelzmantel, wedelte aufgedreht mit ihrem designertaschenbewehrten Arm und schrie: „Schaatzimaus, hiiier bin ich!!“ Dabei knallte eine der Tragetaschen Katja ins Gesicht. Es mussten ein Schuhkarton drin sein, dem Schmerz nach zu urteilen. Den Buggy mit Kleinkind neben der Frau registrierte Katja gar nicht.

Es war nur ein kleiner Schubs. Genau genommen hatte die Blondine ja grün. Aber Markus war zu schnell, um abzubremsen.  Die Polizei fand leider keine Augenzeugen für dieses schreckliche Unglück. Die Menschen waren einfach weitergegangen. Auch Katja. 

Das Kleinkind im Buggy schaute mit großen Augen interessiert auf den pinkfarbenen Fleck auf dem Zebrastreifen, drehte sich zu seinem Au-Pair-Mädchen um und sagte klar und lächelnd: Mama.

Adventskalender MiniKrimi am 7. Dezember


Foto von kalhh auf pixabay

Heute präsentiere ich Euch einen Minikrimi meiner Autorinnenvereinigung-Kollegin Angelika Wessbecher. Klein aber gemein!

Mord am Reinmarplatz

Der Anfang war sehr verheißungsvoll. „Volle Fahrt voraus“ signalisierte das Liebeshoroskop von Ariane Mittermeyer, die sich vor einiger Zeit recht halbherzig in einem Singleforum angemeldet hatte. Nicht, dass sie auf Horoskope so viel gab. Nein, also wirklich nicht. Aber man konnte ja nie wissen.

Eines Tages fand sie eine Nachricht in ihrem Posteingang vor. Von einem Mann, der den Nickname „Perlentaucher“ trug. Ariane nahm dessen Profil unter die Lupe, entdeckte das Zitat aus einem Buch, das sie ebenfalls gelesen hatte und einen Songtext, der ihr gleichwohl bekannt vorkam.

Ariane war nicht darauf gefasst, welchen Gefühlssturm sie mit ihrer Antwort entfachte. Der „Perlentaucher“ schrieb, dass er glaube, in ihr eine Seelenverwandte gefunden zu haben, von blindem Vertrauen, von gemeinsamen Jahren war die Rede. Ariane stutzte. „Moment mal“. Da hatte einer die Rechnung ohne die Wirtin gemacht und überhaupt. Das ging ihr alles viel zu schnell, obwohl sie sich in seinen Worten regelrecht badete.

Daraufhin tat Ariane etwas sehr Hässliches. Eine Email (die vierte an jenem Tag) mit einem Hilferuf des liebeskranken „Perlentauchers“ war gekommen und sie lachte ihn in ihrer Rückantwort einfach aus. Der „Perlentaucher“, mit bürgerlichem Namen Peter Hitzlsberger, war außer sich vor Wut, was ja irgendwo auch verständlich war. 

Wenig später tauchte der „Perlentaucher“ (man beachte die Wortspielerei) in dem Haus am Reinmarplatz auf, das Ariane bewohnte. Es klingelte an der Tür, da stand ein ihr unbekannter Mann, hob den Arm und gab einen gezielten Schuss auf ihren Kopf ab. Ariane war auf der Stelle tot.

Dieses Ende war in ihrem Horoskop nicht vorauszusehen gewesen.

Adventskalender MInikrimi am 6. Dezember


Des Doodles Kern

(von meiner Co-Autorin Lydia H.)

Der Nikolaustag 2018 würde Rita immer im Gedächtnis bleiben. 

An diesem Tag hatte für sie ein neues Leben begonnen. Christof, Ritas Mann, hatte ihn am Nikolausabend ins Haus gebracht. Verziert mit einer roten Schleife um den Hals, tapste Ben in ihr Leben. Ben, das bezauberndste „Mannsbild“, das Rita seit langem begegnet war. Nun ja, Mannsbild trifft es nicht ganz. Ben war ein Labradoodle, 10 Wochen alt, mit goldenem Fell. 

Erleichtert nahm Rita zur Kenntnis, dass die ungewöhnliche Geheimnistuerei ihres Ehemannes während der letzten Wochen nicht einer Affäre geschuldet war  wie sie bereits befürchtet hatte. Mit 45 und nach 10 kinderlosen Ehejahren mit einer fast gleichaltrigen Frau war der Gedanke ja nicht ganz abwegig gewesen. 

Rita, Grundschullehrerin, und Christof, Partner in einer großen Wirtschaftskanzlei, hatten vor 7 Jahren ein schmuckes Reihenhaus in einem guten Münchener Viertel gekauft. Genug Platz für zwei Kinder. Aber es kam anders. Beziehungsweise es kam gar nicht. Zumindest keine Kinder. Nach Auskunft der Kinderwunschklinik – die ihnen von diskreten Nachbarn am Ende einer alkoholintensiven Party im kleinen Kreis mit entsprechenden Geständnissen in den frühen Morgenstunden – empfohlen worden war,  waren sie beide einfach zu alt, um auf normalem Wege Eltern zu werden. Im Unterschied zu vielen befreundeten Paaren, die in einem ähnlichen Dilemma steckten, entschieden sich Rita und Christof gegen künstliche Befruchtung. 

Den Wunsch nach einem Hund hegte Rita schon lange, im Grunde, bevor sie sich eine Schwangerschaft hatte vorstellen können. Schon als Kind hatte sie immer von einem vierbeinigen Freund geträumt. Leider hatte Christof eine Hundehaarallergie, was sie, Rita,  allerdings erst nach der Hochzeit erfuhr. 

Die ersten Monate mit Ben waren wie ein Traum gewesen – und ein Jungbrunnen für ihre Ehe. Plötzlich hatten die beiden wieder ein gemeinsames Gesprächsthema, das nichts mit beleidigenden Helikoptereltern oder halbkriminellen Klienten zu tun hatte.  

Sie gingen zusammen spazieren, ja sie besuchten sogar eine Hundeschule. – besser ls jede Paartherapie, gestand Rita ihrer besten Freundin, und sie schämte sich nicht dafür. 

Und Christofs Allergien? Keine Spur. Das lag an den besonderen Eigenschaften des Labradoodles. Ende der 80er Jahre in Australien durch Kreuzung von Labrador und Großpudel kreiert, sollte diese Hybridzüchtung einen Blindenhund für auf Hundehaare allergische Menschen hervorbringen. Obwohl als Rasse bis heute nicht anerkannt, erfreute sich der Labradoodle schnell großer Beliebtheit und verbreitete sich sehr schnell in Kreisen,  welche zwar einen Hund halten wollten, aber aus den unterschiedlichsten Gründen keine Hundehaare in ihren Häusern duldeten. Das für Allergiker im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtige Zuchtziel, der Wegfall des pudeltypischen Fellwechsels, wurde allerdings bis heute nicht erreicht. Ein nichthaarender, mithin hypoallergener Hund, existiert nach heutigen Erkenntnissen leider noch nicht. 

Als der Frühling kam und mit ihm Bens erster Fellwechsel , war das schöne Familienleben mit einem Schlag – oder Haarknäuel – vorbei. Christof gab sich zunächst wirklich größte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen und deponierte überall unauffällig eine Asthma Sprays. Rita, die alle Hausarbeiten einer Putzfrau überlassen hatte, ahnte nichts von dem Drama, das sich in ihrem Haus entfaltete. 

Nach dem zweiten Fellwechsel im Herbst jedoch konnte Christof sein Leiden nicht mehr verbergen. Es war klar: Entweder Christof oder der Hund. Christof entschied: Ben konnte nicht bleiben. Rita sagte nichts. Sie hatte in der Beziehung eigentlich nur sehr selten etwas gesagt, wenn es darum ging, Entscheidungen zu treffen. Christof hatte schnell eine tolle Familie für Ben gefunden. Rita war mitgekommen, um sie kennenzulernen. Sie schienen ihr etwas laut und chaotisch. Ben war ihrer Meinung nach eher der ruhige Typ. Aber Christopf erklärte ihr geduldig, dass Kinder die beste Ablenkung für ihn sein würden und er Rita so am schnellsten vergessen würde. 

Wie Rita Ben vergessen würde – und ob – das hatte Christop ganz offensichtlich nicht in Betracht gezogen. Bens Umzug sollte ausgerechnet am Nikolausabend stattfinden. Auf den Tag genau ein Jahr nach seiner Ankunft. Rita fand das äußerst geschmacklos. Aber andererseits hatte sich ihr Mann noch nie durch besonders guten Geschmack oder gar Feingefühl ausgezeichnet.

Ab dem 1. Dezember weinte Rita sich jede Nacht in den Schlaf. Schließlich verlies sie das gemeinsame Schlafzimmer und legte sich auf eine Decke neben Bens Schlafkörbchen.

Die Polizei konnte sich nicht erklären,  warum alle Asthma Sprays im Haus leer gewesen waren. Als Rita am Nachmittag des 6. Dezember von ihrem letzten ausgedehnten Spaziergang mit Ben nachhause kam, war Christof bereits tot. Er hatte ganz offensichtlich alle Schubladen nach einem vollen Spray durchwühlt. Aber da auf den Dosen ausschließlich seine eigenen Fingerabdrücke gefunden wurden, bekam Rita keine Vorladung, sondern lediglich Beileidsbekundungen. 

Rita und Ben trösteten sich am Nikolausabend gegenseitig. Und Ben schlief zum ersten, aber nicht zum letzten Mal, im Ehebett.

Adventskalender Minikrimi am 5. Dezember


Keine Wahl

Sie ist wach, lange, bevor der Wecker klingelt. Früher hat sie sich nach dem ersten „Kikerikiiii“ nochmal tief in die Daunen geschmiegt, und wenn Mami um sieben mit einer Tasse Kakao ins Zimmer kam und gut gelaunt rief „Sofia, aufstehen, der Morgen lacht!“, lugte nur die Nasenspitze aus der Decke hervor. Früher. Da hatte Sofia nie verstanden, wie Mami es schaffte, immer gut drauf zu sein. Sogar, wenn es draußen noch dunkel war, oder wenn sie einen tierisch ekligen Tag vor sich hatte, mit lauter unangenehmen Meetings und so. Jetzt kommt Mami morgens nie in ihr Zimmer, sondern liegt in unruhigem Medikamentenschlaf bis mittags im Bett.

Sofia schält sich aus der Decke – die Daunen sind in der Waschmaschine verklebt und hängen in Klumpen im Bettbezug. „Aufstehen, Simon, der Morgen lacht“, flüstert sie ihrem kleinen Bruder ins Ohr. Eigentlich nervt es sie, dass er in ihrem Bett schläft, aber jetzt im Winter wärmen sie sich so wenigstens gegenseitig. Und Simon braucht alle Wärme, die er kriegen kann, denkt Sofia. Zärtlich streicht sie ihm das schlaffeuchte Haar aus der Stirn. Blonde Locken, wie Papa. Papa. Sofia schluckt etwas herunter, was wie Tränen schmeckt. Aber sowas kann sie sich nicht leisten. Nicht mehr. Sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

Sofia ist erst dreizehn, doch seit ihr Vater vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist – „hit and run“ – heißt das in Amerika, ist sie es, die den Familienalltag am Laufen hält. So gut sie es eben kann. Die Mutter ist chronisch depressiv, zu Zeiten sogar suizidal. Wenn du kein Einkommen hast und keines verdienen kannst, geht der soziale Abstieg ganz schnell. Vaters Geld war in einem halben Jahr verbraucht. Haus und Möbel wurden versteigert, dann der Umzug in die Sozialwohnung.

Sofia hatte kein Problem damit, in eine neue Schule zu gehen, eine Gesamtschule, was anderes gibt es nicht in der Nähe. Die Freundschaften aus dem Mädchengymnasium hatte sie da bereits hinter sich gelassen. Du wirst uninteressant, wenn du nichts mitmachen kannst. Kein Shopping, keine Clubs, und nach den Ferien hast du keine Urlaubsabenteuer zu berichten, weder von den Seychellen noch vom Sprachkurs in England. Nein. Ganz so stimmte das nicht. Es gab da schon ein paar Mädchen, die nicht so waren. Die gerne weiter mit ihr befreundet gewesen wären, weil sie sich mochten. Aber Sofia hatte einen Schlussstrich unter ihr altes Leben gezogen. Und alle und alles hinter sich gelassen. Außerdem hat sie gar keine Zeit mehr für Freundschaften.

Schließlich muss sie sich nicht nur um Simon kümmern, sondern auch um ihre Mutter. „Mami, Simon braucht neue Schuhe“, hat sie erst gestern gesagt und versucht, die dicke Mauer aus Tabletten und Gleichgültigkeit zu durchdringen. „Mir geht’s grade nicht so gut, frag Papa“, war die Antwort.

Frag Papa. Was würde er machen? Er würde sich kümmern, eine Lösung finden. In diesem Fall wohl vor allem: Geld verdienen. Sofia ist dreizehn und geht noch zur Schule! Aber sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

In den letzten Wochen hat sie angefangen, in der Pause mit ein paar Typen aus ihrer Klasse rumzuhängen. Eigentlich, nachdem Mandy, sowas wie die Anführerin der Mädchen, versucht hatte, sie fertig zu machen. „Du glaubst wohl, du bist was besseres?“ „Du wohnst in genau so ner dreckigen Sozialwohnung wie wir, ich hab dich heimgehen sehen, du Lauch. Du Bitch, du bist so wack….“ Sofia hatte zwar nicht den Wortlaut verstanden, aber wohl die Absicht. Früher, da hatte Papa sie zum Muay Thai-Training gefahren („Ich fände Ballett ja besser, aber vielleicht musst du dich mal verteidigen können“). Genau. danke Papa. Mandy war zu Boden gegangen. Und Sofia hatte eine neue Clique.

Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber die Bewunderung der Jungs tat ihr gut. Sie lernte, Zigaretten zu drehen und Shisha zu rauchen. Eines Tages schenkte ihr Ben einen Minirock aus Kunstleder und sagte: „Den hab ich für Dich gefunden. Mach dich schön, wir gehen zu ner Party, die is lit af.“ Sofia verstand, dass sie nicht nein sagen konnte. Schweren Herzens löste sie ein mini Stück von Mamis Schlaftabletten in Simons Saft auf, legte ihn ins Bett und ging. Ben hatte nicht zu viel versprochen. Die Party war „echt cool“, wie Sofia sich ausdrückte. Es gab Bier und Wodka und Red Bull und Tabletten. Alles umsonst. Zum ersten Mal nach Papas Tod fühlte sie sich frei. Und gut.

Das ist jetzt vier Wochen her. Inzwischen hat sie kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie Simon die aufgelösten Schlaftabletten gibt. Der Kindergärtnerin hat sie gesagt, er hätte eine verschleppte Erkältung und sei deshalb tagsüber so teilnahmslos. Die Schule bringt sie irgendwie hinter sich. Sie ist immer noch besser als der Rest der Klasse, auch, wenn sie nicht lernt und keine Hausaufgaben macht. Der Lehrer lässt sie in Ruhe, denn sie hebt den Durchschnitt. Mandy macht einen Bogen um sie. Sie gilt als Bens Girlfriend. Er kauft ihr Klamotten, was zu essen, genug für sie und Mami und Simon, am Abend die Drinks und die Tabletten. Mehr als knutschen war bislang nicht drin, aber Sofia weiß, irgendwann wird sie sich revanchieren müssen.

Irgendwann war vor drei Tagen. „Süße“, hatte Ben ihr ins Ohr geflüstert und dabei immer wieder daran genagt. „Süße, meine kleine Bitch. Es wird Zeit, dass du mir zeigst, wie lieb du mich hast.“ Sofia hatte genug Wodka und Tabletten intus, um ihm als Antwort die Zunge ganz tief in den Hals zu stecken und sich rhythmisch an seinem Köper zu reiben. Aber das war es gar nicht, was Ben wollte. Er schob sie ein Stück von sich weg auf der abgewetzten, fleckigen Kunstledercouch und sagte, plötzlich ganz Businessmann: „Siehst du die drei Betties da drüben? Die sind echt Boyfriend-Material. Aber sie müssen noch auftauen. Mach mal.“ Und er legte ihr ein paar von den blauen Pillen in die Hand. „Nein, mach ich nicht“, hatte Sofia gesagt. Denn sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen. Sie zieht andere nicht mit runter.

Erstaunlicherweise hatte Ben sie nicht gezwungen. Aber am nächsten Tag auf dem Schulhof hat er sie am Arm gepackt und zum Zaun gezogen. Da standen zwei Männer, schwarz gekleidet, solche, die ihr Muay Thai-Trainer immer mit ganz harten Augen weggeschickt hatte. „Süße, wenn du keinen Stoff verticken willst, dann musst du was anderes machen. Ich hab wegen dir so viel Schulden bei den beiden hier gemacht, da musst du jetzt bezahlen helfen….“, sagte Ben.

Sofia hatte sich losgerissen und war in das Schulgebäude gerannt. Hatte ihre Tasche geholt, dem Lehrer gesagt, ihr sei schlecht, und war nach Hause gegangen, immer mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Zuhause hatte Mami Spaghetti gekocht, und sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, es war fast wie früher. „Mami, ich hab da ein Problem“, hatte Sofia begonnen, ihr Herz auszuschütten. Aber ihre Mutter hatte schon wieder versonnen in die Pasta geschaut, nichts gegessen und nur abwesend gemurmelt: „Schatz, frag Papa.“

Als sie Simon vom Kindergarten abholte, fuhr ein schwarzes Auto hinter ihnen her, ganz langsam. In der Wohnung schloss Sofia die Haustür ab, zog die Vorhänge zu und legte sich mit Simon ins Bett.

Gestern Morgen hatte sie in der Schule angerufen und gesagt, „meine Tochter ist krank.“ Das gleiche hatte sie mit dem Kindergarten gemacht. Sie rührte sich nicht aus der Wohnung. Simon protestierte, ihm war langweilig, und den blöden Saft wollte er plötzlich auch nicht mehr trinken. „Der schmeckt so bitter, und dann ist mein Kopf immer soooo schwer.“ Sofia schaute den Schatten zu, wie sie sich über die Wände legten, und den Ameisen, die Simons verschmähtes Marmeladenbrot in unzählige Transportbrocken zerlegten und durch die Küche schleppten, wer weiß wohin.

Gestern Abend, Sofia war grade im Bad, hatte es an der Tür geklingelt, und Simon war schneller gewesen. Als Sofia dazukam, stand Ben da. Nur Ben. Er kam nicht rein, gab ihr ein kleines Päckchen und sagte: morgen holen sie dich ab. Tu, was sie dir sagen. Du hast deinen Bruder doch lieb. „Simon?“ fragte Sofia. „Simon!“ rief sie. Aber Simon war verschwunden.

Später, als sie auf dem Bett saß und ungläubig auf die Waffe starrte, die sie ausgepackt hatte, klingelte ihr Handy. „Hast du es dir überlegt? ja? Dann komm runter. Dein Bruder wartet im Auto. Wenn wir dir erklärt haben, was du zu tun hast, kannst du ihn mit rauf nehmen. Aber wenn du es dir morgen anders überlegst, ist er für immer weg. Wir wissen, wo er spielt….Klar?“

Jetzt bringt Sofia Simon zum Kindergarten. Wie jeden Morgen. Gibt ihm einen Kuss. Wie jeden Morgen. Um die Ecke wartet der schwarze Wagen. Sie steigt ein. Die Männer fahren mit ihr zu einer Garage, dort muss sie die Waffe abfeuern. Zur Übung. Es ist gar nicht schwer. Sie wird aus nächster Nähe schießen und braucht nicht wirklich zu zielen. Sie ist ein großes Mädchen.

Das Auto hält vor einem riesigen Gebäude, Stahl und Glas. Sie steigt aus. In der einen Hand hält sie ein Foto, in der anderen, in einem Beutel versteckt, die entsicherte Waffe. Sie wartet, und als der Mann auf dem Foto die Treppe hinunter kommt, steht sie vor ihm, sagt „Hallo“. Er lächelt sie freundlich an: „Hallo, Kleine!“ Und Sofia drückt ab.

„Nur wenige Minuten nach seinem Freispruch ist „Ali G. das Oberhaupt eines von zwei konkurrierenden Drogenclans, auf den Stufen des Gerichtsgebäudes erschossen worden. Tatverdächtig ist ein Kind, zwölf bis dreizehn Jahre alt. Die Polizei sucht nach dem Mädchen, das allerdings noch nicht strafmündig ist.“

Adventskalender Minikrimi am 4. Dezember


In der Weihnachtsbäckerei

Die Wochen vor Weihnachten waren in der „Nice to meat you“-Agentur traditionell die stressigsten des gesamten Jahres. Jeder Kunde, so schien es den erschöpften Mitarbeitenden, hatte plötzlich noch eine zündende Idee für einen last-minute-Flyer, um mit phlippinischem Balut, gefülltem Meerschweinchen oder gegrillter Nutria-Ratte verwöhnten Gourmands die letzten Kröten aus der Tasche zu ziehen.

Kein Wunder, dass zumindest die weiblichen Angestellten mindestens Flexitarier waren, viele tendierten inzwischen sogar zu veganer Kost. Als Nervennahrung in dieser hochaktiven Zeit kursierten demzufolge auf den Schreibtischen des 500 qm open space Offices keine frittierten Insekten, sondern Schokoriegel in allen Variationen. Und Plätzchen, natürlich.

Eigentlich hatte niemand nach einem 15-Stunden-Tag im Büro noch die Kraft, sich in die Küche zu stellen, Teig auszurollen und Bleche mit Ausstecherlis zu belegen. Niemand – außer Frau Schmitt. Frau Schmitt arbeitete als Sekretärin für die Marketing-Abteilung, und zwar schon so lange, dass niemand sich an eine Zeit erinnern konnte, als sie noch nicht an ihrem Schreibtisch gleich hinter der Glastür, direkt neben Kopierer und Faxgerät, gesessen hatte. Immer makellos gekleidet in unfarbige Twinsets und knielange Stoffröcke. In flachdunklen Schuhen. Mit weißblondem Pagenschnitt, der im Verlauf der Jahre wohl blondweiß wurde, ohne dass ein Unterschied zu sehen gewesen wäre.

Frau Schmitt passte weder zu den schwarzen Kostümkreativen noch zu den jovial Kragenlosen. Sie schwebte zwischen den Gegensätzen von Tradition und Moderne, von allen gebraucht und von jedem belächelt.

Aber einmal im Jahr, in der hektischen Vorweihnachtszeit, wurde Frau Schmitt über Nacht zum magnetischen Mittelpunkt des Büros. Zwischen dem 30. November und dem 1. Dezember schien sie sich gleichsam zu verpuppen, um dann, pünktlich mit dem ersten Adventskalendertürchen, als vanilleduftende, zuckerbestäubte Makronenfee zu erscheinen.

Natürlich war sie immer noch Frau Schmitt, und sie sah auch so aus. Wie immer. Fast. Denn manchmal klebte ein wenig Eigelb an einer Strähne ihres Pagenschnitts. Oder sie trug Puderzucker auf der Nase, sie, die ganz sicher noch nie mit Make-Up in Berührung gekommen war.

Jeden Tag trug sie in ihrer braunen Tasche Plastikdosen voll zerbrechlicher Vanillekipferl, knuspriger Florentiner und saftiger Golatsch an ihren Arbeitsplatz. Stellte sie in die Küche – und lud alle ein, sich zu bedienen.

Warum tut sie das? hatten sich Generationen von silhouettierten Mitarbeitenden gefragt. Ohne eine befriedigende Antwort darauf zu finden. Die Legende besagte, dass Frau Schmitt, deren Privatleben in der Agentur völlig unbekannt war, ihr Herz an den früheren Chef verloren hatte. Dieser wiederum liebte Linzer Golatschn über alles. Und so hatte sie versucht, über seinen Magen seine Liebe zu erlangen. Alle Jahre wieder. Und immer umsonst.

Inzwischen war die Agentur an ein erfolgreiches Ehepaar verkauft worden und hatte sich auf die exklusive Fleischbranche spezialisiert. Im Oktober hatte die Chefsekretärin gekündigt – sie hatte sich einen lukrativeren Posten geangelt, als Ehefrau eines Garnelenimporteurs.

Nur war die Not groß. Wer konnte das immense Arbeitspensum der Vorweihnachtszeit erledigen, ohne zu murren, ohne zu schludern oder zusammenzubrechen und vor allem, ohne eine Gehaltserhöhung zu fordern?

Da kam nur eine in Frage. Frau Schmitt. Jeder wusste es. Auch sie. Und sie begann bereits, ihren Schreibtisch zu ordnen und sich nach Schuhen umzusehen, die für den weiten Weg vom Büro der Chefsekretärin bis zu Kopierer und Faxgerät tauglich wären.

Aber dann lernte der Chef in einer Hotelbar eine ebenso kurven- wie listenreiche Brünette kennen. Sie versicherte ihm, Überstunden seien für sie kein Problem. Und in punkto Bezahlung war sie flexibel und akzeptierte auch Gold und Silber. So hieß es.

Jedenfalls zog nicht Frau Schmitt in den verwaisten Vorraum zum Chefsessel, sondern die junge Dame aus der Hotelbar. So hieß es.

Und Frau Schmitt saß mit ihren neuen Schuhen am alten Platz. Das hätte in dem 500qm großen open space Office keinen gestört – wäre der Zeitpunkt nicht so überaus ungünstig gewesen. Denn selbstverständlich gingen alle Mitarbeitenden davon aus, dass Frau Schmitt angesichts dieser schlechten Behandlung auf Rache sinnen – und dieses Jahr keine Plätzchen backen würden. Oder vielleicht würde sie sie ja backen, aber mit Sicherheit würde sich keines davon ins Büro verirren. Wie schrecklich!

In den schlimmsten Albträumen wurden die Bäckerein und Konditoreien in der näheren und weiteren Umgebung heimgesucht. Und allesamt für unwürdig befunden. Sie hielten dem Vergleich zu Frau Schmitts Gebäck natürlich nicht stand.

Wie groß war die Verwunderung, und unmittelbar danach die Freude, als, pünktlich am 1. Dezember, Frau Schmitt mit ihrer braunen Tasche in der Hand und Puderzucker auf der Nase den Raum betrat – eingehüllt in eine Wolke süßen Vanilleduftes.

Alle stürzten sich sogleich auf die unbeschreiblich saftig glänzenden Linzer Golatschn und waren sich einig: so gut wie in diesem Jahr waren sie Frau Schmitt noch nie gelungen.

Frau Schmitt indes schaute von ihrem Arbeitsplatz gleich hinter der Glastür auf das gefräßige Treiben und lächelte. Verschmitzt.

Es war dieses Lächeln, das die Polizei auf ihre Spur brachte. In Hausmantel und Lockenwicklern öffnete sie einem grimmig dreinschauenden Kommissar samt Assistenten – denn nur in Kriminalfilmen kommen die Beamten alleine und lassen sich überwältigen.

Auf die Frage, womit sie die Golatschn gefüllt habe, antwortete Frau Schmitt zunächst gar nicht. Sie wurde sehr rot im Gesicht, blickte zu Boden und gestand schließlich, die fertigen Plätzchen und auch die Johannisbeer-Konfitüre, mit der sie die dürftige Füllung per Hand aufgepeppt hatte, in einem Discounter erstanden zu haben. „Ich bin dort so schlecht behandelt worden, ich wollte ihnen einen Denkzettel verpassen. Sie sollten am eigenen Leib erleben, wie das schmeckt. Schlechte Behandlung.“

„Und deshalb haben Sie die ganze Belegschaft vergiftet?“

„Vergiftet? Um Gottes Willen, nein! Ich habe nur billige Plätzchen und billige Konfitüre gekauft und ihnen statt meiner leckeren Golatschn dieses Industriegebäck hingestellt. Damit ihnen der Appetit vergeht.“

„Frau Schmitt – die Leute, die Ihre Plätzchen gegessen haben, liegen im Krankenhaus. Ihr Chef und seine Sekretärin werden wahrscheinlich nicht durchkommen. Gestehen Sie endlich, dass Sie das Zeug vergiftet haben.“

Frau Schmitt konnte ihre Unschuld beteuern, so oft sie wollte. Sie kam in Untersuchungshaft. Der Kommissar und sein Assistent wollten partout keinen Zusammenhang sehen zwischen ihren Linzer Golatschn und einer Charge verdorbener Konfitüre eines großen Discounters, die in verschiedenen anderen Städten zu schweren Lebensmittelvergiftungen geführt hatte.

Adventskalender Minikrimi am 3. Dezember


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Rapunzel, lass dein Haar herunter
München, die Singlehauptstadt. Andreas hätte es schlechter treffen können mit dem Ort seiner Facharztausbildung. Da würde er neben einem netten Job und einer schönen Wohnung auch bald eine hübsche Freundin sein Eigen nennen. Das hatte er zumindest gedacht. Doch heute, gut zwei Jahre nach seinem Umzug aus dem unter medizinischen und landschaftlichen Aspekten sicher reizvollen, aber für einen Endzwanziger mit entsprechender Testosteronlast nur bedingt aufreizenden Städtchen war in Sachen Beziehung enttäuschend wenig gelaufen. Im Gegensatz zu Samson, seinem roten Kater, hatte Andreas bisher nicht einmal so etwas wie eine leidenschaftliche Affäre gehabt. Auch Krankenschwestern waren heute offensichtlich nicht mehr unbedingt auf charmanten Ärztenachwuchs aus. 
 
Aber dann geschah es: eines Morgens klingelte jemand an seiner Wohnungstür im ersten Stock eines renovierten Altbaus im Münchner Stadtteil Bogenhausen. Sturm. Eine Frau stand vor ihm, mit schulterlangen blonden Locken, wutsprühenden grünen Augen und einem Scharlachmund, dem wunderbar modulierte Alttöne entsprangen. Im ersten Moment dachte er tatsächlich, sie sänge. Dann hörte sie abrupt auf und starrte ihn erwartungsvoll an. Er schwieg fasziniert. „Haben Sie mich nicht verstanden? Das ist Katzenkot“, und sie hielt ihm einen offenen Gefrierbeutel vor die Nase. Der Geruch war eindeutig. „Soeben auf frischer Tat ertappt! Wenn Ihr elender Kater noch einmal in meine Rosen scheißt, bringe ich Sie um. Haben Sie mich jetzt verstanden?“ 
„Warum mich?“ fragte Andreas, als er sich von seinem Stupor erholt hatte. Aber die Worte rieselten von den Wänden, ohne sie zu erreichen. Sie war schon den Gang entlang und die Treppe hinabstolziert. Auf 10 cm Absätzen.
 
Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Zumindest von seiner Seite aus. Nach einer Woche wusste er genau, wann sie die Wohnung verließ und  wann sie wieder nach Hause kam. Sie musste im medizinischen Bereich tätig sein, vielleicht war sie Ärztin, genau wie er. Wenn das kein Zeichen war. Wie gut, dass er seinen romantischen Traum von der großen Liebe nicht aufgegeben und sich irgendeiner Patientin an den Hals geworfen hatte. Er hatte sich für sie aufgehoben. Das musste ihr gefallen.
Wenn er ihr morgens „rein zufällig“ an der Haustür begegnete, hielt er ihr diese galant auf. Hatte sie eine Tüte mit Abfällen in der Hand, ging er ihr voraus zum Müllhäuschen und hob den Deckel der Restmülltonne für sie hoch. Sie bedankte sich mit einem Lächeln, noch knapper als ihr Lederrock. Andreas fand es absolut in Ordnung, dass sie reserviert war. Er hätte nichts anderes von ihr erwartet. 
 
Nur sein Kater machte ihm zu schaffen. Der Kerl war ein Despot. Schon immer gewesen, seit er ihn vor 20 Jahren von der Straße gekratzt und zum Entsetzen seiner Mutter ins Haus geschleppt hatte. Ohne besondere Pflege hatte sich das Tier erholt,  bis auf den Verlust eines Auges und ein leichtes Humpeln hatte es keinen Schaden davongetragen. Zumindest körperlich. Psychisch, davon war Andreas überzeugt, war der Kater seither ziemlich abgestumpft. Bzw. war er ein Menschenhasser geworden. Auch Andreas wurde von ihm nur geduldet. Er ließ sich nie streicheln. Aber nachts lag er auf einem eigenen Kopfkissen in dem optimistischen Kingsize-Bett. Obgleich sie einander keinerlei Liebe eingestanden, waren die beiden unzertrennlich. Allerdings hatte Andreas keine Macht über den Kater, der über die Katzentreppe vom ersten Stock in die Gärten ging und wieder kam, wie er wollte. Seltsamerweise aber machte er sein Geschäft nie wieder in den Garten von Dr. Verena Mießtal – den Namen hatte das Klingelschild preisgegeben.
 
Nach einem Monat intensiven Werbens zwischen Haustür und Müllhäuschen ging Andreas zum Angriff über. An einem Sommerabend um 20 Uhr stand er vor ihrer Tür. Während des Heimwegs auf dem Rennrad von der Klinik und dann unter der Dusche hatte er sich den Verlauf des Abends ausgemalt. Nein, vorgestellt. Er wusste genau, was passieren würde. Und hatte sicherheitshalber das Fenster, an dem die Katzentreppe montiert war, geschlossen, um jedwede Störung ihrer ersten gemeinsamen Nacht auszusperren.
 
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihm die Tür öffnete. Aber dann wurden seine kühnsten Erwartungen übertroffen.Da stand sie vor ihm, mit tropfenden Haaren, nur in ein Badehandtuch gehüllt. „Ja`?“ fragte sie, während sich um ihre Füße eine kleine Wasserlache bildete, aus der der Duft von Jasmin aufstieg.“Da bin ich“, sagte er, hielt ihr die roten Rosen entgegen, beugte sich ein wenig zu ihr herab – sie war etwas kleiner als er, nicht zu viel, nicht zu wenig – und küsste sie innig auf die halb geöffneten Lippen, am Ziel seiner Träume, endlich.
 
Aber dann: Filmriss! 
„Sag mal spinnst du? Du tickst ja wohl nicht richtig“ „Aber – ich dachte…“ „Du dachtest WAS? Nein, danke. Ich bin nicht interessiert!“
Während Andreas noch versuchte, ein paar passende Worte zu sammeln, passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Aus der Tiefe der Wohnung rief eine Stimme – hell, weiblich – „Was ist, Vreni? Soll ich die Polizei rufen?“ Und eine Frau, jünger als Verena, mit kurzem braunem Haar und ebenfalls nur in ein Badetuch gehüllt, trat aus dem Schatten des Flures. Eine rote Kugel flog mit markerschütterndem Gekreische an Andreas vorbei, landete im Gesicht der jungen Frau und durchpflügte es mit scharfen Krallen, bevor sie pfeilschnell in den ersten Stock hinauf verschwand.
 
Als Andreas am nächsten Abend nach Hause kam, lag der rote Kater tot auf dem Kopfkissen, äußerlich unverletzt.
 
Dr. Verena Mießtal konnte nicht ahnen, dass ihr Verehrer kürzlich am Rande einer Fortbildung aufgeschnappt hatte, dass der Wirkstoff Minoxidil, der in einem äußerst beliebten Haarwuchsmittel enthalten ist, schon in geringsten Dosen für Katzen tödlich ist, und dass Tierärzte das sehr wohl wissen, ihren humanmedizinischen Kollegen aber nicht sagen. Warum auch. Und wann. Sie hatte außerdem keinen Gedanken daran verschwendet, dass Andreas beim Erforschen ihres Lebens auch Kenntnis von ihrem Beruf als Veterinärin erhalten hatte. 
 
Nachdem er den leisen Geruch im Fell seines Katers identifiziert hatte, wartete er, still, gefühllos, geduldig, so lange abends am Müllhäuschen, bis Verena schließlich mit einer Abfalltüte in der Hand auftauchte. Der Messerangriff, der nur dank Verenas Gegenwehr nicht tödlich ausging, wurde als versuchter Raub behandelt, der Täter nie gefasst.
 
Sowohl Verena als auch Andreas verließen den wunderschönen Altbau in Bogenhausen. Hoffentlich in entgegengesetzte Richtungen.

Adventskalender Minikrimi am 1. Dezember 2019


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Ich möchte diesen ersten Minikrimi @dieKali widmen, der Metahasenbändigerin, Onkobitch. Weil ich ihre Kreativität bewundert habe, die trotz, wegen und in ihrer Krankheit aus ihr sprudelte, ihren Esprit, ihren Witz, ihren Mut. Bis zuletzt. Chapeau.

Schwanensee

Im Radio hatte er gehört, der Advent sei eigentlich eine Zeit, in der die Menschen aus ihrer Komfortzone heraustreten sollten. Eine Zeit, die auf die Grausamkeiten, die Schrecken und die Ungerechtigkeit der Welt hinweist. In den Straßen der Stadt war davon nichts zu spüren. Im Gegenteil – alles schien in Zuckerwatte eingesponnen, mit Makronenduft besprüht und von Glitzerlicht erhellt. Eine unwirkliche Bühne für ein unrühmliches Spektakel, das die schlechtesten Seiten unserer Konsumgesellschaft zur Schau stellte.

Er floh – wie so oft und immer öfter – in die Stille, joggte fast schon hastig  den Weg zum Stadtpark, durch das Tor, den Hügel hinauf und dann über die Wiese hinunter zum See. Der graue Weimeraner trabte routiniert rechts neben ihm, Herr und Hund: ein eingespieltes Team.

Der See lag heute in Nebel gebettet, die Wasserfläche ein schwarzes, regloses Auge, die Fichten am gegenüberliegenden Ufer wie lange Wimpern, Schneeflocken verfingen sich darin und rieselten herab, stille Wintertränen. Plötzlich löste der Weimeraner sich von der Seite seines Herrn, stand einige Sekunden reglos, mit der Nase Witterung aufnehmend, dann preschte er in eleganten Sätzen zum Ufer des Sees, ein Meistertänzer auf vier Beinen. Sein Besitzer starrte ihm nach, dann rief er. Er pfiff. Der Hund reagierte nicht, flog über das Gras, die Böschung hinab und blieb dann ganz unvermittelt stehen, die Pfoten in den mit Schnee und Schlamm vermengten Kies gestemmt, den Kopf schief gelegt, als beäugte er eine Beute. Dem Besitzer blieb nichts anderes übrig. als seinem Hund zu folgen. Weitaus weniger grazil erreichte er, schlitternd und fluchend, den Saum des Sees.

Der Weimeraner stand keine zwei Meter von ihm entfernt. Vor ihm lag ein weißer gefiederter Körper. „Der sterbende Schwan“, dachte der Mann unwillkürlich, denn die Szene vor dieser winterlichen Kulisse war ihm, dem Produzenten einer Vielzahl weltberühmter Ballettinszenierungen, mehr als nur vertraut.

Aber er korrigierte sich sofort. Das war weder ein Schwan, noch kämpfte das Mädchen  mit dem Tod um das Leben. Sein Körper war von weißen Federn bedeckt, sie bewegten sich mit den leisen Uferwellen auf und ab, auf und ab, das Echo eines erloschenen Atems. Er zwang sich, näher zu kommen. Die Federn waren nicht echt.  Billige Engelsschwingen, jetzt im Advent in fast jedem Dekodiscounter zu finden. Sie bedeckten die Schenkel, die Scham, den Bauch und die Brüste. Der Hals ragte lang und weiß aus den Federn hervor, umrahmt von rotbraunen Locken. Die Haarfarbe erinnerte den Mann an –

Er kniete sich neben die Tote. Beugte sich über sie, um das ihm abgewandte Gesicht zu betrachten, die blicklosen Augen auf die Fichten gerichtet, um den Hals eine Kette aus geronnenem Blut. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Aber er sagte kein Wort, er dachte auch nicht ihren Namen. Stattdessen umfing ihn eine große, eisige Stille. Er sah hinüber zum anderen Ufer, an dem tatsächlich ein einsamer  Trauerschwan gelandet war und sein schwarzes Gefieder schüttelte.

Er wusste, wer seine Tochter getötet hatte. Er wusste, warum. Und er wusste, dass er ihr nichts entgegenzusetzen hatte.

Der Schwan glitt ins Wasser und setzte zum Abflug an. Der Mann sah eine Ballerina im schwarzen Tütü, wie sie ihre Arme hob und für ihn Pirouetten drehte, noch eine und wieder eine. Nadja war die Primaballerina seines Herzens gewesen, er hatte sich Hals über Kopf in ihren Tanz verliebt. Aber dann war die Erste Solistin von ihrer Erkältung genesen, Nadja war zurück ins Corps de Ballet gerückt worden, und der junge Produzent hatte die große Karriere, die internationalen Erfolge nicht mit Nadja erreicht, sondern mit ihrer Gegnerin, mit Silvana, dem weißen Schwan.

Er hatte Nadja und seine Liebesschwüre natürlich schnell vergessen. Vor allem, als Silvana ihm eine Tochter geschenkt hatte.  Flora. Ein neuer Stern am Balletthimmel. Eine neue Giselle, ein strahlender Schwan, eine perfekte Odette.

An den schwarzen Stamm einer Fichte gelehnt, starrte Nadja zu dem Mann hinüber, der sie seit dieser Schwanensee-Probe in all ihren Träumen verfolgte. Den sie verfolgt hatte. Nach dem Sturz, dem Karriere-Aus hatte der Wunsch nach Rache ihr Leben bestimmt.

Jetzt war da nur noch eine große, eisige Stille.

Nach zwanzig Jahren gingen sie sich entgegen, ohne aufeinander zu treffen. Zu tief war der See. An einem Wintertag im Advent wurden drei Leichen geborgen. Ein junges Mädchen mit durchtrennter Kehle und zwei Ertrunkene.

 

Adventskalender Minikrimi Countdown


Draußen schwimmen Wattewolken über blasses Blau. Sie flüstern von Schnee, von Kerzenlicht, vom ersten Advent. Um vom Adventskalender Minikrimi, der morgen sein erstes Türchen für Euch bereit hält. Krimifans und Shortie-Lovers, Romantikfreunde und eilig Lesende – alle kommen auch heuer wieder auf Ihre Kosten. Versprochen!

Wie in jedem freuen wir uns über Eure Anregungen. Ihr könnt uns „Clues“ schicken, Wörter, um die herum wir unseren Krimi ranken sollen. Oder eine spannende Idee. ODER: Euren Gastbeitrag!

Noch einmal schlafen, dann ist es soweit. Morgen Abend, am 1. Dezember, startet der Minikrimi Adventskalender nur auf mariebastide.blogchristmas-2933027__340

MiniKrimi vom 27. Dezember 2018


In den Rauhnächten zwischen Weihnachten und Neujahr sind die Grenzen zwischen sichtbaren und unsichtbaren Welten bekannterweise sehr dünn, zuweilen sogar durchlässig. Kommt gut behütet durch die Zeit, und genießt den einen oder anderen Kurzkrimi. Heute ein Nachlese zum Heiligen Abend von Lydia Heck.

Tief verschneites Land

Selten,  sehr selten zeigt sich der Heilige Abend in dem Gewand, das wir von ihm erwarten. Tief verschneit und unter einem stahlblauen Himmel.  Dieses Jahr war alles perfekt. Die Landschaft um den Chiemsee herum lag unter meterhohem Schnee. In dem Hotel,  in dem das Paar Weihnachten verbringen würde,  zogen seit dem Morgen verführerische  Küchendüfte durch alle Räume.  Fast hatten die gut betuchten  Gäste das Gefühl,  zu Hause zu sein. Es war wie früher,  als die Mutter im Morgengrauen die Weihnachtsgans ins Rohr geschoben hatte. Und der Geruch des Bratens den ganzen Heiligabend begleitete.

Das war kein Zufall. Der Sternekoch,  der dieses Hotel ein paar Jahre zuvor, entgegen dem Rat seiner Kollegen, verwirklicht hatte, wusste genau, was seine Gäste an diesem Tag und an diesem Abend brauchten. Es war die Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit, welche an diesem Abend viele Menschen auf der Welt umtrieb. Jeder der solventen Teilnehmer an diesem besonderen „Abendmahl“ hatte seine ganz eigenen, gut gehüteten Gründe,  nicht im trauten Kreis einer Familie zu feiern. Und weder der Champagner zum Entree noch die zehn Gänge des Festessens auf zwei Sterne Niveau konnten darüber hinwegtäuschen. Genauso wenig wie die erlesenen Weine und Spirituosen,  die in Strömen flossen.

Selbstverständlich besuchte man später die Christmette in Aschau. Ein kleines Dorf,  dessen hellster Stern besagtes Hotel geworden war. Inklusive der Zwei Sterne-Küche. Nach der Christmette waren auch die letzten Hotelgäste von einem wohligen Gefühl erfüllt. Dieser Heiligabend war gelungen – und jeden Euro des mehrstelligen Betrages wert, den sie darin investiert hatten. Ganz sicher waren sie sich vorher nicht gewesen.  Die Erleichterung,  den Abend trotz der vielen unterschwelligen Probleme und der Einsamkeit so stilvoll im perfektem Rahmen absolviert zu haben,  gab ihnen Recht.  Sie hatten sich nichts vorzuwerfen.  Sie waren die einsame Spitze dieser Gesellschaft.

Niemand bemerkte den älteren Mann beim Verlassen der Kirche. Er lag zusammengekauert am Rande des Weges, zwischen dem Hotel und der Kirche.  Herr Klein hatte ein renommiertes Unternehmen aufgebaut.  Zusammen mit seiner Frau.  Im November war sie gestorben.  Die beiden Kinder waren schon lange aus dem Haus. Sie führten ihr eigenes Leben.  So hatten Herr Klein und seine Frau sie erzogen.  Stolz waren sie immer auf die Selbständigkeit ihrer Kinder gewesen. Herr Klein hätte seine Kinder  daher nie gefragt,  ob er das Fest bei ihnen verbringen dürfe.  Ein paar Gläser Wein zu viel  an diesem Abend, an dem niemand mehr als ein paar oberflächliche Worte mit ihm gewechselt hatte.  Er war nie ein Meister des Smalltalks gewesen, und selbstverständlich war keiner daran interessiert, die Trauer in seinen Augen näher zu ergründen. Mitmenschliche Gefühle war im Preis nicht inbegriffen.

Ob die anderen Gäste ihn auf dem Rückweg ins Hotel nicht sahen oder nur nicht sehen wollten? In den hellen, warme Räumen gab es noch eine hervorragende Feuerzangenbowle,  begleitet von Andersen Geschichte vom Mädchen mit den Streichhölzern, vorgetragen von einem bekannten Schauspieler. Allen waren sehr berührt. Halleluja.