Adventskalender MiniKrimi am 8. Dezember


Künstlerpech

Es sah aus, aus würde sie schweben. Die schlanken Beine lässig übereinandergeschlagen, beide Handflächen fest auf die lichtbleichen Steine gelegt, der Oberkörper ein gelber Farbtupfer im gleißenden Blau. Der Horizont nicht mehr als eine schaumige Linie. Sie saß auf einer verwitterten Mauer mit dem Rücken zur Sonne, zu ihren Füßen sattgrünes Gras. Der Kopf war nach hinten geneigt, die Augen versteckt hinter einer geschwungenen Sonnenbrille, der karmesinrote Mund im Lachen geöffnet. Eine leichte Brise spielte mit ihren schulterlangen blonden Locken.

Francois Simonds trat zurück, den Pinsel zwischen den Zähnen, sein Blick wanderte schnell zwischen Bild und Modell hin und her. Und er wusste, dass er unfassbar, unheilbar, unrettbar verliebt war. In das Modell, in die Sonne Südfrankreichs, in das Meer – aber vor allem in sein Bild und ja, in sich selbst. Sein Pinselstrich, die Art, wie er das Licht einfing, den Seidenschimmer ihrer Haut – er war einer der ganz Großen. Es war nur eine Frage der Zeit, da war er sich sicher, bis er in den besten Galerien in Paris hängen würde. Bei Polka, Perrotin oder sogar Gagosian.

„Fertig, mon amour?“, fragte Eloise, sein Modell, seine Muse, seine Geliebte. „Mir tut jeder Muskel weh, ich habe sicher schon einen Sonnenbrand auf den Schultern – und überhaupt keine Lust mehr.“

„Ganz kurz noch! Das Bild muss perfekt sein. Ja, das wird es. Perfekt! Was ist dagegen schon ein bisschen Muskelkater?“

Eloise öffnete ihren Schmollmund. „Ok, aber nur noch fünf Minuten“, stöhnte sie, warf ihm einen Luftkuss zu, reckte und streckte sich. Francois hob die Hand mit dem Pinsel, kniff die Augen zusammen, schaute auf das Bild, dann auf seine Geliebte. „Du sitzt ganz anders! Dreh dich nach links, nein, nicht so weit. Wieder zurück! Ach, merde! So geht das nicht!“, schrie er unvermittelt, schleudert Pinsel und Palette auf den Boden, riss das Bild von der Staffelei und stürmte davon, den steilen Felsenpfad von der Zitadelle hinab zum Strand. 

Am frühen Abend wollte die Polizei von Eloise wissen, wann genau sie Francois zum letzten Mal gesehen hatte. Zwei Stunden zuvor war die junge Frau barfuß, mit zerkratzen Armen und Beinen, aufgeplatzter Lippe und geschwollener Wange im vollbesetzten Standcafé aufgetaucht, weinend und zitternd. Nachdem die Wirtin ihr ihre Wolljacke um die Schultern gelegt und ein Glas Pernod in die Hand gedrückt hatte, hatte Eloise darauf bestanden, die Polizei zu verständigen. Der Maler Francois Simond habe sie gerade im Rondell auf der Zitadelle angegriffen und geschlagen. Sie habe sich losgerissen und sei den Felsenpfad hinunter zum Strand gerannt. Francois habe sie verfolgt, aber nicht eingeholt. 

Jetzt hatte sie plötzlich Angst, dass ihm etwas zugestoßen sei. Wo war er? Und wo ihr Porträt, an dem er gemalt hatte?

Die Polizei leitete eine Suchaktion ein, und schon kurze Zeit später wurde die Leiche des Malers am Fuß der Steilküste zwischen den Klippen gefunden. Von dem Bild aber fehlte jede Spur.

„Mademoiselle, Sie haben Schreckliches durchgemacht. Es tut mir unendlich leid, aber ich muss Sie bitten, mir noch einmal genau zu berichten, was heute Nachmittag vorgefallen ist.“ Commissaire Verlaine war ein runder, freundlicher Mann mit Geheimratsecken und einem zerknitterten Leinenanzug. Er erinnerte Eloise entfernt an ihren Vater, und sie vertraute ihm. Sie seien am späten Vormittag zur Zitadelle aufgebrochen, weil Francois ihr Porträt vollenden wollte. Es sei der ideale Tag dafür, das ideale Licht. Nach zwei Stunden ungefähr habe sie keine Kraft mehr gehabt – das reglose Sitzen habe sie angestrengt. Francois habe das nicht verstanden, habe einen seiner Wutausbrüche bekommen und sei davongestürmt, kurz darauf aber wiedergekommen. Er habe noch ein paar Stunden weitergemalt und dabei immer wieder Cognac getrunken – er habe stets eine Flasche dabeigehabt, zur Inspiration. Aber der Alkohol habe ihn aggressiv gemacht, und als ihr Handy geklingelt habe, sei er ausgerastet. Er sei leider sehr eifersüchtig gewesen und unsicher wegen des großen Altersunterschieds. Er habe sie geschlagen, sie habe sich gewehrt, sei ihm davongelaufen, hinunter zum Strand und den vielen Menschen, wo sie sich sicher fühlte. Danach hatte sie ihn nicht mehr gesehen. 

Commissaire Verlaine begleitete Eloise persönlich nach Hause. 

Nach der Testamentseröffnung besuchte er sie in SImonds Villa und beglückwünschte sie dazu, dass Simond sie zu seiner Haupterbin eingesetzt hatte. Sie schien über seinen Besuch ehrlich erfreut und servierte ihm Kaffee im Salon. Über dem Kamin hing ein Porträt von ihr, in leuchtend gelber Bluse vor blauem Meer. „Ist das nicht im Rondell der Zitadelle?“, fragte Verlaine. „Ja, das stimmt. Er hat das Motiv immer wieder gemalt, es war wie besessen von dem Platz,“ sagte Eloise. „Aber das Porträt, an dem er am Tag seines Todes gemalt hat, ist nie wiederaufgetaucht?“ „Nein, leider. Es war perfekt.“

Am nächsten Morgen stand Verlaine mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Villa. Er nahm das Porträt in Gewahrsam – und auch Eloise. Die gelbe Bluse hatte Francois erst am Tag vor seinem Tod für seine Geliebte gekauft. Und die Sonne stand auf dem von der Kunstwelt gefeierten Bild im Zenit. Eloise hatte gelogen. Und den eifersüchtigen Maler schon mittags von den Klippen gestoßen. 

„Die blonde Mörderin“ wurde in der Galerie Gagosian ausgestellt und zu einem Sensationspreis verkauft. Der Erlös ging an einen Verein zur Förderung verarmter Künstler*innen.

Adventskalender MiniKrimi am 7. Dezember


Eine schöne Bescherung 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am schlimmsten. Wenn draußen die Lichtgirlanden, in den Fenstern die Jakobsleitern und am Adventskranz die Kerzen leuchten, wenn die Luft nach Glühwein duftet und gebrannten Mandeln, wenn sich im Keller die Dosen mit frisch gebackenen Plätzchen stapeln und das Radio „Last Christmas“ in Dauerschleife dudelt, packen die Erinnerungen Erika jedes Mal mit aller Macht. Denn genau in dieser magischen, wunschprallen, nach Vergebung und Liebe suchenden Zeit ist Erika die schlimmste Kränkung ihres Lebens widerfahren. 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am besten. Wenn draußen ein eisiger Ostwind den Schnee vor sich hertreibt und drinnen vor dem munter flackernden Kaminfeuer Whiskey und Pfeife auf ihn warten, genießt Eduard die Erinnerungen am meisten. Und während das Holz in den Flammen knistert, ergreift die Genugtuung wieder Besitz von jeder Faser seines Körpers, prickelnd und über die Maßen erregend.

Erika hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Erstgeborene, ein Mädchen statt des ersehnten Stammhalters, schmal und schmächtig. Aus der konnte nichts „Gescheites“ werden, das hatte die Mutter gleich beim Anblick der Neugeborenen prophezeit. Im Laufe ihres Lebens hat Erika diese Erwartungen voll und ganz erfüllt. Von einer scheuen Schülerin, die sich statt in Freizeitaktivitäten lieber in Bücherwelten stürzte, entwickelte sie sich zur einer musikbesessenen Medizinstudentin. Natürlich gaben ihr die Eltern keinen Pfennig dazu, und Erika verdiente sich Studium, Bücher, Unterkunft und Essen durch Klavierunterricht. Dass sie ihr überhaupt erlaubten, die Universität zu besuchen, lag ganz einfach daran, dass sie dadurch früh „aus dem Haus, dem Auge und dem Sinn“ der Mutter verschwand.

Eduard interessierte sich schon im Kinderwagenalter für Geschwindigkeit: er stellte sich kerzengerade in seinem Buggy auf und hieb mit einem langen Schnürsenkel auf die Schwester ein, die ihn, wie ein eingespanntes Pferd, in Windeseile über den Hof ziehen musste. Mit fünf zerschnitt er die Bremsen ihres Fahrrads, woraufhin sie wie ein Pfeil die Straße bergab und gegen den Baum an der ersten Kreuzung sauste. Selbstverständlich trat er nach dem Realschulabschluss in das elterliche Autohaus ein und verdrängte den Vater, so schnell es ging, aus dem Geschäft. Sein rasanter Lebensstil kostete im Laufe der Zeit allerdings mehr, als ihm seine diesbezügliche Expertise einbrachte. Schließlich stand das Autohaus – das Lebenswerk des Vaters – kurz vor dem Konkurs. Dann starb die Mutter, und nur mit ihrem Geld konnte er die geschäftliche „Kurve kriegen“. Allerdings war dazu mehr als sein eigener Erbanteil nötig...

Erika, inzwischen längst Landärztin mit eigener Praxis, Ehemann und zwei Kindern, saß bei der Testamentseröffnung kerzengerade auf dem Ledersofa. Sie musste gegen die ungehindert durch die großen Fenster in den Raum hineinstürzende Sonne blinzeln und nahm den Anwalt, den die Mutter offenbar kurz vor ihrem Tod mit ihren Angelegenheiten betraut hatte, – übrigens ein Kunde und Duzfreund ihres Bruders – nur als Scherenschnitt war.  Im Nachhinein hat sie versucht, das Testament anzufechten, um zumindest einen Pflichttei des Erbes zu erhalten. Vergeblich. Nachdem sie alle Instanzen durchlaufen hatte, nahm der Richter, der ihr in der letzten Verhandlung die allerletzte Hoffnung genommen hatte, sie beiseite. Ob ihr bewusst sei, dass ihr Anwalt zur Clique von Eduard gehöre? Er habe es wirklich geschickt angestellt, so dass ihm, dem Richter, bei dieser lückenlosen Vorgehensweise tatsächlich die Hände gebunden gewesen seien.

Eduard sitzt vor seinem Kamin. Verträumt betrachtet er die Glut. Um ihn herum nur die Stille einer sternenklaren Nacht. Er hat den Brief zweimal gelesen. Wort für Wort. Aber er kann keinen Fallstrick erkennen. Nur eine tiefe Traurigkeit. Erika war schon immer melancholisch veranlagt. Sie schreibt, dass ihr Mann gestorben sei. Ein Unfall, der die gesamte Familie in arge Bedrängnis gebracht habe. Sie könne die Praxis nicht mehr halten und werde wohl auch aus dem Haus ausziehen müssen. Das wenige Geld, das ihr bleibe, sei für die letzten Studienjahre ihre Kinder bestimmt. Nach so viel Leid habe sie das dringende Bedürfnis, in ihrem Leben Ordnung zu schaffen. Sie wolle den Zwist mit ihrem Bruder beilegen. „Lassen wir den Schnee von gestern doch einfach tauen“, schrieb sie. „Und endlich wieder wie Geschwister zueinander sein.“

Der dem Brief beigelegte Versöhnungstropfen muss noch aus dem Weinkeller seines Schwagers stammen. Ein vorzüglicher Chateau Lafitte. „Santé, Schwester“, sagt Eduard und hebt das Glas.

Dank seiner Selbstgerechtigkeit ist er kaum überrascht, als sie trotz vorgerückter Stunde vor seiner Tür steht, und es gelingt ihm gerade noch, ihr das Glas in die Hand zu drücken, als die Welt um ihn herum sich zu drehen beginnt. Sekunden später liegt er leblos auf dem Terracottaboden.

Frau Dr. Erika Monhaupt ist untröstlich, den Bruder so unmittelbar nach ihrem Wiedersehen verloren zu haben. Dabei verschweigt die Ärztin natürlich sowohl ihren Brief samt Versöhnungsgeschenk als auch ihre Kenntnis bezüglich der Ursache für den plötzlichen Tod ihres Bruders. 

Die Vorweihnachtszeit, denkt sie, während draußen dichte Schneeflocken tanzen und im Kamin ein lustiges Feuer prasselt, ist doch gar nicht so übel. Morgen kommen die Kinder. Ist das nicht eine schöne Bescherung?

Adventskalender MiniKrimi am 6. Dezember


(danke, liebe Petra 🙂 )

Der eilige Nikolaus

In der Pandemie haben es Nikoläuse besonders schwer. Ich rede nicht von denen aus Schokolade, sondern ich meine die, die durch Kindergärten, Wohnungen oder Schulen ziehen, mit Mitra und goldenem Buch, um die Kinder mit einer Geschichte und ein paar Kleinigkeiten zu beschenken. So, wie es ihr Vorgänger vor rund 1700 Jahren in Myra gemacht hat. Dabei hat der historische Nikolaus durchaus eine Affinität zu pandemischen Zeiten, denn er erbte das Vermögen, das er an die Armen und Kleinen verteilte, von seinen Eltern. Und die waren an der Pest gestorben. Düstere Zeiten also, damals wie heute. Und wie immer, wenn es den Menschen schlecht geht, freuen sie sich ganz besonders auf schöne, herzwärmende Momente. Wie eine halbe Stunde mit Sankt Nikolaus, seinen Geschichten und kleinen Geschenken. 

Nun ist der Nikolausbesuch nicht nur für die lieben Kleinen – die bösen sehen ihm meist eher mit gemischten Gefühlen entgegen – und ihre Eltern eine Freude. Auch für die vielen Menschen, die am 6. Dezember in Kostüm und Rolle schlüpfen, ist dieser Tag wichtig, nämlich als fest einkalkulierter Verdienst. 

„Nikolausbesuch trotz Corona“ titeln daher Tageszeitungen und Webseiten schon seit Tagen und Wochen. Und tatsächlich ist die Vermummung bei diesem „Heiligen“ ja ohnehin praktisch Teil des Kostüms, so dass die ihn selbst und die Anderen schützende FFP2-Maske gut unter einem entsprechenden Rauschebart verborgen werden kann.

 Und trotzdem ist das Geschäft auch heuer, im zweiten Jahr in Folge, für die berufsmäßigen Nikoläuse mau. Studenten, Gelegenheitsarbeiter und Minijobber hocken frustriert auf der Couch und starren nostalgisch auf Handyvideos vergangener Performances, während draußen zarte Flocken aus dem Himmel rieseln. Kinder sitzen vor dem Fernseher und müssen mit einem Zeichentrick-Surrogat vorliebnehmen, oder mit Fantasy-Gebilden aus der Disneyschen Traumfabrik.

Aber halt! Wer stapft denn da durch den frisch gefallenen Schnee auf dem Kirchplatz? Das gelbe Laternenlicht malt bizarre Schatten auf die lichtglitzernden Tannen, und dazwischen bewegt sich eine große Gestalt in langem Mantel. In einer Hand hält sie einen Stab, in der anderen einen großen Sack. Sankt Nikolaus – denn wer sollte das sonst sein? – bleibt immer wieder stehen und schaut sich nach allen Seiten um. „Er sucht die Kinder, er sucht uns“, flüstert Lisa und versucht, den zwei Jahre älteren Bruder beiseite zu schieben, um einen besseren Blick durch das beschlagene Fensterglas auf den Menschen zu werfen. 

Finn ist sieben und stolz darauf, nicht mehr an Nikolaus, Christkind & Co. zu glauben. Aber die Gestalt, die dort unten ganz offensichtlich über den verlassenen Park Richtung Kirche huscht, hat schon verdammt viel Ähnlichkeit mit dem Mann, den es eigentlich nicht gibt. 

„Schau mal, jetzt ist er an der Tür zur Sakristei. Er denkt bestimmt, die Kinder warten wegen der Kälte heute drinnen auf ihn. Komm, Finn, wir müssen runter! Stell dir mal vor, wie enttäuscht Sankt Nikolaus ist, wenn er drinnen gar niemanden findet.“ Und als sie sieht, dass ihr Bruder noch zögert, fügt sie verschmitzt hinzu: „Der Sack sieht so aus, als wären da viele Überraschungen drin. Und wenn wir die einzigen Kinder sind…..“

„Ok. Komm.“ Finn geht vorsichtig zur Zimmertür, schaut nach, ob die Luft rein ist, winkt seiner Schwester, und dann schleichen beide auf Zehenspitzen, Winterjacken in der Hand, aus der Wohnung. Eltern sind solche Spielverderber. Wahrscheinlich hätten sie ihnen „wegen Corona“ verboten, dem Nikolaus hinterherzulaufen.

Draußen ist es eiskalt und stockdunkel. Im Park springen sie von Lichtpfütze zu Lichtpfütze, gehen zwischen den Tannen in Deckung und suchen den Heiligen Mann. Schwer ist das nicht, denn seine Stiefel haben im Schnee deutliche Spuren hinterlassen, bis hin zur Sakristei. Die Tür steht einen Spalt offen. „Alles dunkel. Wahrscheinlich ist er schon wieder weg“, flüstert Finn. „Der Arme, er war sicher total enttäuscht“, antwortet Lisa. Aber da sehen sie einen Lichtstrahl im Kirchenraum umherirren. „Komm“, sagt Finn wieder. Und die Geschwister schieben sich vorsichtig in die Sakristei. Auch im Dunkeln erkennen sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Der Tisch ist umgeworfen, die Türen der Schränke mit den Messgewändern, Kerzenhaltern, Kelchen und allem, was in einer Sakristei an Kostbarkeiten aufbewahrt wird, hängen schief in den Angeln. Aus dem Kirchenraum dringen Geräusche, ein Klirren, ein dumpfer Knall, ein Fluch. Lisa starrt ihren Bruder an. „Der Nikolaus flucht doch nicht… oder?“ „Nein. Er kommt zurück. Schnell in den Schrank!“ 

Hinter Messgewändern versteckt beobachten die Kinder, wie Sankt Nikolaus hastig die Sakristei durchquert, mit dem prallen Sack in der Tür hängenbleibt, ihn losreißt und in der Dunkelheit verschwindet.

„Halt, halt, unsere Geschenke,“ flüstert Lisa erschrocken. „Pssst“, faucht ihr Bruder. „Schnell.“ Er zieht die Schwester hinter sich her zum Pfarrhaus. Dort läutet er Sturm. 

„Der Nikolaus ist aus der Kirche gelaufen und hat vergessen, uns unsere Geschenke zu geben“, erklärt Lisa dem verblüfften Pfarrer und den Gästen, mit denen er gerade gemütlich zu Tisch saß. „Nein, er hat alles gestohlen“, ruft Finn. „Da läuft er!“

Tatsächlich kommt der unheilige Mensch mit dem schweren Sack im Schnee nur langsam voran. Der Pfarrer und seine Gäste rennen ihm nach – immer den Spuren im frischen Schnee hinterher.

Lisa und Finn haben es nicht eilig, nach Hause zu kommen – sie gehen ganz sicher einer saftigen Standpauke entgegen. „Ob sie ihn fangen, den Nikolaus?“, fragt Lisa. „Bestimmt. Wenn er nicht um die Ecke einen schnellen Schlitten geparkt hat“, antwortet Finn.

Adventskalender MiniKrimi am 5 .Dezember


Catch me if you can

(Die Texte stammen größtenteils aus einer tatsächlichen Unterhaltung, die ich mit einem Romance Scammer geführt habe. Ich recherchiere seit geraumer Zeit zu diesem Thema)

An einem Sommerabend vor 6 Monaten:

Mark Reinhart hat dir eine Freundschaftsanfrage geschickt.

WTF ist Mark Reinhart? Aha, aus Frankfurt. Alter Bekannter? Neuer Fan? Hm. Nettes Profilbild. Ah. Geschieden. Dann nehme ich die Freundschaft mal an. 

Keine 10 Sekunden später eine neue Nachricht:

Hallo, guten Abend. Schön, dich kennenzulernen. Wie geht es dir im Moment? 

Hallo auch. Im Moment geht’s mir ganz gut. Und selbst?

Danke der Nachfrage. Nun, ich unterhalte mich gerade mit dir und bin dabei, dich kennenzulernen. Das ist sehr schön.

Ok. Aber wie bist du auf mich gekommen?

Ich habe Ihr Profil gesehen, und Sie haben mir gefallen, weil Sie eine schöne Frau sind.

Ah. Daher weht der Wind. Was für ein Glück!

Danke für die Blumen. Ich habe mir auch dein Profil angesehen – und ich denke, du bist ein Romance Scammer. Habe ich recht?

Okay, meine Liebe. ich sage Ihnen mit so viel Selbstachtung und Höflichkeit, dass Sie viel Respektlosigkeit zeigen, wenn Sie so von mir denken. Meine ganze Absicht war nur, einen großartigen Geist wie dich zu kennen. Aber ich frage mich wirklich, woher diese Frage kommt, weil ich es als Missachtung meiner Persönlichkeit sehe. Ich bin Chirurg und leite eine Abteilung für freie Medizin in einem Krankenhaus in Aleppo. Ich arbeite dort für die UN.

Wow. So ein langer Text. Das ist vielversprechend!

Ich will dir sagen, woher meine Frage kommt. Letztes Jahr hat sich eine Freundin von mur umgebracht, nachdem ein Romance Scammer sie erst um 10 Tausend Euro betrogen und ihr dann das Herz gebrochen hat. Sie hat Selbstmord begangen. Seitdem recherchiere ich, um die Leute zu finden, die ihr das angetan haben. Ich vermute, dass eine Organisation dahintersteckt. Ich schlage dir einen Deal vor: Info gegen Cash. 

Meine Liebe, Sie sind entweder völlig unverschämt oder sehr dumm. Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich wollte dich kennenlernen, weil du eine interessante Person bist. Was ist dein Beruf und wo wohnst du? Ich lebe zurzeit in Aleppo, aber ich komme aus Frankfurt. Dort lebt meine kleine Tochter. Hast du auch Kinder?

Das geht Sie nichts an. Ich biete Ihnen Geld, wenn Sie mir etwas darüber sagen, warum Sie Romance Scammer geworden sind. Arbeiten Sie alleine? Müssen Sie das Geld, dass Sie ergaunern, abgeben? Wo leben Sie? Ich merke doch, dass Sie nicht wirklich Deutsch können. Lassen Sie uns einfach mit offenen Karten spielen. Wer sind Ihre Hintermänner? 

Okay. Ich bin ein Mann, der mit Beweisen und Fakten arbeitet. Die Art, wie Sie schreiben, scheint ein Teil der Terroristen zu sein, die wir zu vermeiden versuchen. Ich arbeite für die UN, und wir haben Methoden, Terroristen wie dich zu vernichten.

Ah ja. Jetzt kommen wir der Sache endlich näher.

Wunderbar! Und ich versuche, Kriminellen wie Ihnen das Handwerk zu legen. Letzte Chance: helfen Sie mir. Oder ich zeige Sie an. You can help me – or I will sue you.

You are a very big fool. Don’t do something that will get yourself in problem. 

Ok – what do you wanna do to me?

I will fuck you up in so many ways. Ich habe Ihre Daten gespeichert. Das ist kein Spiel. Passen Sie auf.

Ich habe keine Angst vor Ihnen.

Das sollten Sie. Hören Sie auf, nach uns zu recherchieren. Oder Sie sind tot.

An dieser Stelle bricht die Unterhaltung ab. 

Als ich am nächsten Morgen meinen Computer starte, erkennt er mein Passwort nicht. Stattdessen erscheint auf dem Bildschirm in schwarzer Schrift der Satz: Lass uns in Ruhe.

Seitdem bin ich auf der Flucht. Meine Kreditkarte wurde geknackt. Mein Email-Account auch. Meine Freund*innen haben Hate-Mails erhalten und wollen nicht mehr mit mir sprechen. Ich habe Angst. Aber ich gebe nicht auf. Ich habe ein Ziel.  Ihr lest wieder von mir. 

Adventskalender MiniKrimi am 3. Dezember


Voll das Leben

„S2 Richtung Ostbahnhof. Vorsicht bei der Einfahrt.“

Die Türen gleiten auf, ein Strom kleinäugiger Menschen mit schlafverhangenen Blicken über weißen Einheitsmasken ergießt sich auf den Bahnsteig, vermischt sich kurz mit dem Strom der Einsteigenden, ebenso kleinäugig und maskenbewehrt, dann trennen sich die beiden Ströme, der eine fließt die Rolltreppe hinauf, der andere verteilt sich auf die Plätze in der S-Bahn.

Er setzt sich ans Fenster. Gegen die Fahrtrichtung. Kehrt dem Tag schon am Morgen den Rücken zu. Weiß, dass eh nichts Besonderes passieren wird, nichts, was diese 24 Stunden von denen davor und denen danach unterscheiden wird.

Er klebt die Stirn an die Scheibe, draußen rast der Winter vorbei, blauer Himmel, weißer Zucker auf Dächern, Ästen, Wiesen. Sein Telefon vibriert in der Jackentasche. Er holt es raus: kein Anruf. Aber etwas vibriert neben ihm. Er tastet in der Ritze zwischen Sitz und Wand: ein zerkratztes Smartphone, kein neues Modell. Eine lange Reihe abgehackter Nachrichten. „Suse, ich kann dich nicht erreichen! Hilfe!!“ „Suse, ich halte das echt nicht mehr aus! Was soll ich machen?“ „Jetzt kommt er schon wieder an. Und wie er stinkt! Ekelhaft! Widerlich! Er oder ich. Ich glaube, ich bringe ihn um.“ „Suseeee???? Wo bist du?“

Plötzlich steht er nicht mehr neben seinem Leben. Er steckt mittendrin. Einen Wimpernschlag lang ist er versucht, das Smartphone einfach wieder neben den Sitz zu stecken. Nicht seine Welt. Nicht sein Problem. Aber dann steckt er es ein. Am Sendlinger Tor nimmt er nicht wie üblich den Ausgang Richtung Nussbaumstraße. Er schlendert in den Park an der St. Matthäuskirche. Kopiert die Nummer, von der die Nachrichten stammen. Schließlich schreibt er. „Hey, ich habe Suses Handy in der S-Bahn gefunden. Kann ich helfen? Ich bin Marc.“

Nichts passiert. Er geht an seinen Arbeitsplatz. Gegen Mittag schaut er zum x-sten Mal ins Mikroskop, ohne etwas zu erkennen. Sein Handy vibriert. „Hi Marc. Voll cool von dir. Aber du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das. Suse auch nicht. Vergiss mich einfach.“

Er wählt die Nummer. Wartet, bis die Stimme ihm mitteilt, dass der Gesprächspartner nicht erreichbar ist. Er schreibt: „Warte! Es gibt immer eine Lösung. Heute morgen dachte ich noch, die Welt kommt gut ohne mich aus. Und dann du. Glaub mir, da geht noch was. Egal was los ist. Gib nicht auf. Bitte.“

Diesmal kommt die Antwort so schnell, als hätte sie – oder er? – auf Marcs Nachricht gewartet. „Voll süß von dir. Aber nein. Ich kann nicht anders. Er quält mich einfach schon zu lange. Mich. Und sich. Irgendwann ist Schluss. Irgendwann ist JETZT!“ 

„Nein! Warte! Wo bist du? Ich komme zu dir, ok?“

„Nein!“ Und dann, nach 10 Minuten: „Es ist vorbei.“

Ihm wird kalt. Ihm wird heiß. Angst packt ihn im Genick. Dann Panik. Er gleitet an der Wand des Labors zu Boden. Zittert. Weint. Ist das das Leben? Ist es das wert? Sein Handy vibriert. Auf dem Bildschirm erscheint ein Foto. Eine junge Frau mit roten Haaren und roten Augen umklammert etwas, das er auf den dritten Blick als ziemlich räudige, kahle, graue Ratte erkennt. „RIP Artur. Alter Kerl. Und auch all deine Flöhe,“ steht unter dem Bild.

Minikrimi Adventskalender am 1. Dezember


Die lahme Ente

„Schatz, kommst du bitte? Das Essen ist fertig.“

„Einen Moment. Ich sitze gerade an der Schlüsselszene.“

„Liebling, vor einer Stunde habe ich dich gefragt, ob ich das Magret de Canard in den Ofen schieben kann. Ja, hast du gesagt.“

Elvira, bitte! Ich kann meinen Schreibflow doch nicht wegen einer lahmen Ente abwürgen.“

„Die Ente ist nicht lahm. Noch nicht. Aber wenn du jetzt nicht kommst, wird sie zäh.“

„Tja, du kannst eben nicht kochen, Elvira.“

„Und du kannst nicht schreiben. Wie lange dokterst du schon an diesem Showdown herum? Und nie kriegst du ihn hin. Du hast deinen Protagonisten inzwischen schon auf ein Dutzend Arten sterben lassen. Erschossen, erhängt, überfahren, vergiftet, von der Brücke gestoßen, erschlagen…“

„Und warum? Weil ich immer genau in dem Moment, in dem in mir das perfekte Szenario zu entstehen beginnt, DU reinplatzt und die kreative Magie zerstörst.“

„Natürlich, ich bin Schuld! Wer wollte denn heute Abend unbedingt Entenbrust essen? Zur „Steigerung der Kreativität“, übrigens…“

„Mag sein. Aber das war vor Stunden. Du hast wirklich keine Ahnung davon, wie ein Künstler tickt.“

„Nein, habe ich nicht. Ich habe nur Ahnung davon, wie ich auf höchst unkünstlerische Weise Geld für zwei verdiene, damit du bis in alle Ewigkeit dein unvollendetes Werk schreiben und dabei Ente essen kannst.“

„Elvira, du bist gewöhnlich! Und laut.“

„Und du bist ein Schmarotzer! Und beleidigend.“

„Wenn dieses Buch, dieses Werk alle Literaturpreise abräumt, dann wirst du vielleicht verstehen, worum es hier geht. Aber auch nur vielleicht…! Und jetzt lass mich in Ruhe mit deinem Gezeter. Geh und stopf dir die Ente in den Hals, meinetwegen.“

„Gute Idee.“

…..

…..

„Elvira? Elvira, was MACHST DU? Halt….mmmph…… arghhhhhh….. rrrrrrrr….. ahhhhhhh………“

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„Schon verrückt, dieser Roman. Und das Ende! Dem Protagonisten eine Entenbrust in den Rachen zu stopfen, bis er daran erstickt. Genial!“

„Schade, dass der Autor praktisch beim Schreiben gestorben ist. Woran eigentlich?“

„Das weiß man nicht so genau. Seine Witwe hat jedenfalls das große Los gezogen. Das Buch bringt soviel ein – die lebt ihr restliches Leben im Luxus. Sie soll übrigens Vegetarierin sein.“

Adventskalender MiniKrimi am 23. Dezember


Falsch verbunden

„Was ist denn das für eine Frau da neben Opa? Die sieht ja spektakulär aus!“

Marie liegt bäuchlings vor dem Kamin, auf ihrem Schoß ein altes Fotoalbum. Hinter ihr auf dem Sofa, mit einer warmen Decke über den Füßen, sitzt ihre Großmutter. Die beiden haben sich vorgenommen, in der heuer so stillen Weihnachtszeit etwas aufzuräumen und auszumisten. Und heute sind die Fotoalben dran. Dieses hier ist so verstaubt, das hat sicher in den letzten 20 Jahren niemand mehr duchgeblättert.

„Lass mal sehen. Das ist ja….. wie kommt denn das Bild da rein? Ich wusste nicht, dass Max überhaupt noch ein Foto von…. von….. dieser Frau aufgehoben hat.“

Marie spitzt die Ohren. „Das hört sich nach einer spannenden Geschichte an, Oma. Erzähl!“

„Ja, das ist nicht nur eine spannende Geschichte, das ist ein richtiger Krimi.“

Inge lehnt sich auf dem Sofa zurück, schließt kurz die Augen, wie um die Erinnerungen zu sammeln und zu sortieren.

„Das Foto ist von 1950. Damals waren dein Opa und ich noch nicht verheiratet. Er war Postbeamter in einer kleinen Stadt in Hessen. So ein Postbeamter war damals eine richtig wichtige Persönlichkeit. Max verkehrte in den besten Kreisen der Stadt, und er war zu allen Festen eingeladen. Das Foto hier ist bei solch einem Fest entstanden.“

„Und wer ist denn jetzt diese geheimnisvolle Frau?“

„Ihren wirklichen Namen kenne ich gar nicht. Wir im Amt haben sie immer nur die schwarze Baronin genannt.“

„Die schwarze Baronin? Aber wenn Opa und du euch noch nicht kanntet, woher wusstest du dann von dieser Frau? Und was hatte sie mit Opa zu tun?“

Was sie mit Opa zu tun hatte, ist schnell erklärt: sie wollte ihn heiraten. Und ich kannte sie nicht persönlich – aber ich kannte ihre Telefonnummer!“

„Ach stimmt, du warst ja ‚das Fräulein vom Amt‘.“

„Genau. Und ich musste täglich mindestens zehn Anrufe an die Frau Baronin durchstellen. Und sie selbst telefonierte auch ziemlich viel. Damals war ein einfach, die Gespräche mitzuhören. Bei der schwarzen Baronin waren wir einfach neugierig, weil sie so „begehrt“ war – und von was für Typen! Da waren Stimmen dabei – richtig gruselig. Heute bin ich nicht stolz darauf, aber damals haben meine Kolleginnen und ich uns manchmal einen Spaß daraus gemacht, die Gespräche „abzuhören. Und dabei bekam ich ziemlich schnell heraus, dass die schwarze Baronin ihre Finger in ziemlich schmutzigen Geschäften drin hatte. Naja, und eines Tages rief jemand für sie an, dessen Stimme ich noch nie gehört hatte. Ich kann dir auch nicht sagen, warum, aber er war mir auf Anhieb sympathisch. Er war auch freundlich, nicht so kurz angebunden wie die meisten. Und er bedankte sich für die Verbindung – das war was ganz besonderes.

Und dann wollte er ausgerechnet die schwarze Baronen sprechen! Ich habe ihn natürlich durchgestellt. Und dann telefonierten die beiden immer öfter. Erst einmal die Woche, dann alle drei Tage und schließlich täglich. Inzwischen begrüßten wir uns auch schon wie alte Bekannte, und bevor er sich von mir verbinden ließ, fragte er immer, wie es mir ging. Ich fand ihn toll. Und ich machte mir große Sorgen wegen der schwarzen Baronin. Na gut, vielleicht war ich auch ein wenig eifersüchtig…..

Schließlich belauschte ich ei nTelefonat zwischen der Baronin und einem besonders fiesen Typen. Er hatte einen starken Berliner Akzent und hörte sich für mich wie ein echter Gangster an. Er drohte der Baronin, die wohl eine Rechnung bei ihm offen hatte, ganz unverhohlen. Sie beruhigte ihn und versprach, ihre Schulden sehr bald auszugleichen. Sie hätte da einen Mann an der Angel, der sei bodenständig und habe eine solide Barschaft. Sobald sie ihn geheiratet hätte, würde sie alles zahlen – und noch was drauflegen.

Mir wurde Angst und Bange, denn ich wusste, dass dein Opa eine Schwäche für die Baronin hatte. Es konnte sich also nur um ihn drehen. Als sparsamer Postbeamter hatte er ein bescheidenes Vermögen angespart. Das hatte ich alles über ihn rausbekommen. Wie gesagt, er interessierte mich…..

Ich wollte unbedingt verhindern, dass er der schwarzen Baronen ins Netz ging. Tagelang grübelte ich, aber dann hatte ich einen Plan.

Als der Berliner das nächste Mal bei der Baronin anrufen wollte, sagte ich ihm, die Leitung sei besetzt. Schnell wählte ich die Nummer von Max, sagte ihm, die Baronin wolle ihn sprechen, und hielt ihn so lange in der Leitung, bis die den Berliner und die Baronin verbunden hatte. Dann schaltete ich ihn dazu und hoffe, dass er als Lauscher das richtige zu hören bekommen würde. „

„Was für ein ausgebuffter Plan, Oma. Und – hat es geklappt?“

„Sonst wärst Du heute nicht hier, Marie. Ja, es hat geklappt. May müssen die Ohren geklungen haben, als die Baronin den Berliner wieder mit dem Hinweis auf den baldigen Geldsegen beschwichtigt hat. Aber damit nicht genug: Sie hat ihm auch erzählt, dass sie sich einen dämlichen Postbeamten geangelt habe, stinklangweilig, aber dafür gutgläubig – und gut situiert. Max hat sich nie wieder bei ihr gemeldet, und ich durfte ihre Anrufe an ihn nicht durchstellen.

Nach einiger Zeit lud er mich das erste Mal zum Essen ein…… naja, und der Rest ist Geschichte. Aber die Baronin muss ihn mächtig beeindruckt haben, wenn er ihr Foto die ganzen Jahre aufgehoben hat….“

„Ach, Oma. Vielleicht wollte er sich nur daran erinnern, dass du ihn damals gerettet hast. Was für eine romantische Geschichte!“

„Ja. Da hat sich die Baronin geirrt. Max war alles andere als langweilig. Er war im Gegenteil sehr romantisch. Weißt du, ich vermisse ihn“

„ich auch.“

Foto: deacademic.com

Adventskalender MiniKrimi am 22. Dezember


Freier Tod

„Herr P., Sie wissen, warum Sie hier sind?“

„Aber natürlich, Frau Kommissarin. Die Chefin des Betreuungsdienstes hat mich angezeigt, weil ich meine Frau umgebracht habe.“

„Genau. Und – was sagen Sie zu dieser Anschuldigung?“ Sie ist schon lange im Dienst, aber eine solche Situation ist für die Kommissarin neu. Der alte Mann, Herr, korrigiert sie sich unwillkürlich, denn diesen Eindruck macht er, sitzt ihr gegenüber und strahlt ein ruhige Würde aus. Glatt rasiert, Manschettenknöpfe aus Ultramarin mit Goldrand, das Hemd verschossen, die Ränder des dunkelblauen Blazers abgewetzt, auf der Hose vorne ein dunkler Fleck, wie sie beobachtet hat, als er in den Verhörraum geführt wurde. Und doch füllt er mit seinem Schweigen die Stille aus.

Jetzt schlägt Walter P. ein hageres Bein über das andere, stützt die Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn auf die gestapelten Finger.

„Ja, was soll ich Ihnen dazu sagen? Sie hat schon Recht. Und wiederum auch nicht. Wenn sie nicht ausgerechnet heute gekommen wäre, um Silke zu kontrollieren, hätte alles geklappt wie geplant. Zunächst lief ja auch alles wie am Schnürchen.“

„Wie meinen Sie das? Sie sagen hier gerade, dass Sie Ihre Frau vorsätzlich getötet und das Ganze von langer Hand geplant haben?“

„Ja.“ Walter P. nickt und schaut der Kommissarin direkt in die Augen. Freundlich. Sein Blick erscheint ihr klar und in keiner Weise getrübt.

„Erzählen Sie mir einfach alles der Reihe nach.“ Es ist nicht einfach, sich dem Bann dieser Augen zu entziehen, die blau und tief in faltigen, sonnengegerbten Höhlen liegen.

„Bevor meine Frau dement wurde, haben wir besprochen, dass wir uns umbringen wollen, wenn uns das Leben zu beschwerlich werden sollte. Wir hatten ein tolles Leben, müssen Sie wissen. Ich war im Auswärtigen Dienst, wir haben die halbe Welt bereist, wir haben es uns wirklich gut gehen lassen. Meine Frau musste nie arbeiten, ich habe ihr immer alle Freiheiten gelassen. Vor zwei Jahren hatte sie einen Schlaganfall. Seitdem ist sie dement. Das ist kein Leben mehr. Deshalb habe ich beschlossen, dass wir unseren Plan jetzt umsetzen.“

„Und Ihre Frau? Was hat sie dazu gesagt?“

„Sie hat natürlich ja gesagt! Wir waren immer eine Meinung! Seit über 60 Jahren!“

„Aber Sie sagten doch, dass Ihre Frau dement ist. Also war. Wie konnte sie Ihnen dann zustimmen?“

Walter P. beugt sich leicht vor. Die Kommissarin merkt, dass er es nicht gewöhnt ist, dass jemand seine Aussagen in Zweifel zieht.

„Sie war einverstanden. Sie war immer einverstanden!“, erklärt Walter P. , so, als spräche er mit einem unverständigen Kind.

„Aber dann ist etwas schief gelaufen? Sie wollten sich beide umbringen, aber Sie leben noch. Und Ihre Frau ist tot.“

„Ja, das ist die Schuld von dieser Dame. Eine unmögliche Frau. So herrisch. Silke ist eine fantastische Betreuerin. Sie macht alles, worum ich sie bitte. Wir kommen wunderbar miteinander aus. Das passt der Chefin nicht. Sie ist wahrscheinlich eifersüchtig. Deshalb ist sie wohl gekommen, um Silke zu kontrollieren. Das konnte ich natürlich nicht wissen.“

„Und was ist genau passiert?“

„Ich hatte meiner Frau eine Tüte um den Kopf gebunden und Gas einströmen lassen. Das hatten wir so besprochen. Aber dann hatte meine Frau einen Reflex und hat versucht, sich die Tüte vom Kopf zu reißen.“

„Sie meinen, Ihre Frau wollte plötzlich nicht mehr sterben?“

„Nein, das meine ich nicht! Natürlich wollte sie sterben. Das hatte ich ja so mit ihr besprochen. Das war nur ein Reflex von ihr.“

„Und was haben Sie dann gemacht? Ihr die Tüte vom Kopf genommen?“

„Natürlich nicht! Wir hatten doch besprochen, dass wir uns umbringen würden! Da kann ich doch nicht plötzlich etwas anderen machen. Das wäre gegen die Abmachung gewesen.“

„Also?“ Die Kommissarin versenkt ihren Blick in das Blau ihres Gegenübers. Da müssen doch Untiefen sein, bei dieser Geschichte!

„Also habe ich fester gezogen. Und dann war es auch gleich vorbei. Meine Frau war ja durch die Demenz schon geschwächt. In dem Moment ging die Tür auf. ich dachte, es sei Silke. Sie sollte ja kommen, das war geplant. Und wenn es alles glatt gelaufen wäre, hätte sie uns beide tot im Wohnzimmer gefunden. Dann hätte sie die Tüte und das Gas entsorgt, noch eine Weile gewartet, zur Sicherheit, und dann den Rettungsdienst gerufen. Aber stattdessen kam ihre Chefin. Und ich war noch nicht fertig. Den Rest kennen Sie.“

Die Kommissarin weiß nicht, was sie tun soll. Walter P. sieht aus wie ein Mann im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Einerseits. Andererseits ist er 95 Jahre alt, und es ist durchaus möglich, dass es sich hier nicht um einen kaltblütigen Mord, sondern um einen gescheiterten Doppelsuizid handelt. Klarheit würde nur eine genaue Kenntnis der Ehefrau bringen. Aber es gibt keine Angehörigen, die sie dazu befragen könnte. Herr P. ist jetzt ganz allein. Wenn man von der Betreuerin absieht. Aber die zählt in diesem Fall ja nicht.

Die Kommissarin hat Mitleid mit dem alten Herrn. Sein ganzes Leben hat er mit dieser Frau geteilt, nun hatte er mit ihr in den Freitod gehen wollen. Und war daran letztendlich gehindert worden. Mit welchem Recht hatte die Chefin des Betreuungsdienstes hier eigentlich Schicksal gespielt?

„Herr P., ich rufe jetzt einen Krankenwagen, der bringt sie in ein Krankenhaus. Nur zur Überwachung. Sie haben einen schlimmen Schock erlitten. Das war wirklich ein tragischer Unfall. Ich werde keine Anklage gegen Sie erheben. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Frieden finden.“

„Danke.“ Walter P. sagt es leise und klar und schaut ihr dabei wieder direkt ins Gesicht. Diese Augen können nicht lügen. Die Kommissarin hat das gute Gefühl, das Richtige getan zu haben.

Nachtrag. Es heißt, dass man einen alten Baum nicht verpflanzt. Aber Walter P. geht es in der Finca, die er an der Algarve gekauft hat, sehr gut. Silke kümmert sich aufopfernd um ihn, aber schließlich profitiert sie auch von der Situation. Win-Win. Für den Fall, dass Silke seiner müde werden und ihre Koffer packen oder, im schlimmsten Fall, Kontakt zu der Kommissarin in Deutschland aufnehmen möchte, hat er eine reißfeste Plastiktüte und das Gas griffbereit. Er weiß ja jetzt, wie es geht.

Adventskalender MiniKrimi am 21. Dezember


Und heute wieder ein Krimi von der wunderbaren Dagmar T.! Danke. Aber Vorsicht. Ich habe tatsächlich Gänsehaut bekommen.

Bussi von der Weihnachtsfrau

Das war nun schon die 20. Weihnachtsfeier in dieser Woche, in der sie als Weihnachtsfrau die Stimmung rockte. 

Diese Veranstaltungen hatten nichts mit beschaulicher Weihnacht zu tun und auch so gar nichts mit Friede und Freude… nun ja, nicht für Alle jedenfalls. Für sie waren sie ein mäßig bezahlter Job. Jede Feier glich der anderen. Immer die gleiche Leier, die gleiche Feier, bei der sich meist Männer die Kante gaben. Ja, es gab auch die eine oder andere Frau, die nichts anbrennen ließ; aber das war nicht ihre Abteilung. Sie befasste sich mit der holden Männlichkeit. Da wurde mal hier, mal da geflirtet, geschäkert, und es wurden Küsschen verteilt, rein geschäftlich angemutet, versteht sich.

So manchER überzog aber die unverbindliche Weihnachtsstimmungs-Beschwingtheit und setzte mit Riesenschritten zum Sprung an… zum Seitensprung.

Zuerst erzählte man(n) von einem ausgefüllten Berufsleben, von Karrierechancen, von kostspieligen Hobbys, die man sich leisten konnte, ja durchaus, dann von Frau und Kindern… und irgendwann wurde es dann vertraulicher, schließlich intimer, eine Verabredung wurde ausgemacht, eine Visitenkarte mit Handynummer eingesteckt, ein Anruf avisiert. Man(n) würde noch Überstunden schieben müssen, war ja klar, wegen der Tage zwischen den Jahren, das würde die Gemahlin schon glauben, war sie doch schon so gewohnt. Ja, man(n) freue sich auf das Treffen, mit ihr, geheim… und feierlich!

Alles in Allem hatte sie heuer 13 Verehrer-Dates. Würde wieder anstrengend sein.

Ihr kleinkalibriger „Herzensbrecher“ war bereits aus der geheimen Kiste im Gartenversteck geholt und instand gesetzt, gesäubert, geschmiert und poliert. Und bestückt. Mit den kleinen Weihnachts-Kügelchen. Für jeden eine; sie traf sicher, das war klar. Ein Schuss, eine Kugel, einer weniger. 

So wurde manche Ehefrau noch vor dem heiligen Familienfeste von ihrem untreuen Ehemann erlöst. Rechtzeitig genug, damit es diesen Frauen nicht so erginge, wie es ihr damals geschehen war. Ein feierlicher Heilig Abend, am 1. Weihnachtstag noch Friede Freude Weihnachtsplätzchen und am 2. Feiertag ein Abschied mit gemeinen Worten und mit Tränen. 

Man hätte doch, du verstehst doch, wir könnten doch und er hätte das doch nicht gewollt… aber er hätte sich halt verliebt, da auf der Weihnachtsfeier, das sei einfach Liebe, da könne man(n) nichts machen…  

13 Männer, 13 Visitenkarten beschriftet mit „Bussi von der Weihnachtsfrau“, 13 gezielte Schüsse mitten ins Herz. Den Muff passend zu ihrem roten Wintermantel  würde sie waschen müssen, einige rote Tropfen hatten diesen bekleckert, würden sonst hässliche schwarze Flecke hinterlassen. Das gestohlene Handy, mit dem sie die Verabredungen mit den Ehebrechern plante, war bereits in den Tiefen des Flusses auf Nimmerwiedersehen versenkt. Alle Jahre wieder… sang die Weihnachtsfrau nach getaner Arbeit und verstaute den roten Mantel, den frischgewaschenen Muff und die Waffe im üblichen Versteck, bis zum nächsten Jahr…alle Jahre wieder.

Adventskalender MiniKrimi am 19. Dezember


Spieglein, Spieglein, an der Wand……

„..ich bin die Schönste im ganzen Land. Und gut, dass das bald auch alle im Land wissen werden“, dachte Sabina. Es war wirklich höchste Zeit. Sie hatte es satt, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, und hatte lange genug auf diese Gelegenheit gewartet. Seit 4 Jahren, um genau zu sein. Seit sie ihren Salon „Sabinas Beauty Palast“ eröffnet hatte.

Die Kund*innen hätten in Strömen zu ihr kommen müssen, aber woher sollten die Menschen in Sachsen wissen, dass es nur bei ihr, in einer kleinen Sackgasse in Schkeuditz, die tollsten Frisuren, das coolste Makeup und die geilsten Nägel gab?

Aber jetzt würde die Beauty-Show in diesem Privatsender sie bekannt machen. Und nicht nur in Sachen! Deutschlandweit. Die Tatsache, dass sie, um den Hauptgewinn zu bekommen, ihre vier Konkurrent*innen besiegen musste, war für Sabina kein Problem. Wofür hat man Freunde? Wenn ihre Qualitäten die Mitbewerber*innen nicht überzeugen konnten, hatten ihre Leute genug schlagkräftige Argumente parat. Sie waren nicht umsonst in Windschatten der Wende aufgewachsen. Jetzt war Zahltag, und endlich war sie, Sabina, an der Reihe.

Heute war der letzte Tag. Mit dem Filmteam von „Spieglein, Spieglein“ waren sie eine Woche lang von München nach Lüneburg, von dort nach Stuttgart, dann weiter nach Schkeuditz und schließlich nach Berlin gezogen. Jeden Tag hatte eine*r der Beweber*innen die anderen Kolleg*innen im eigenen Salon „verwöhnt“ und war dafür bewertet worden. Pah, die dachten, sie seien die Superstars. Allein die Blicke, als die Sabinas Salon betreten hatten. Die Tigerfelle an den Wänden, der rosa Plüsch und die Lackmöbel. Ja, so sah es eben bei ihr eben aus. Und sie war stolz darauf. Hatte alles selbst ausgesucht und nicht irgend so einem Designerfutzi überlassen, wie die anderen. Wie gerne hätte sie es ihnen direkt bei der Behandlung heimgezahlt. Aber das ging nicht, schließlich waren sie live auf Sendung.

Als es dann aber an die Beurteilung ging, hatten ihre Freunde in der Zwischenzeit schon dafür gesorgt, dass ihre Noten gut ausfielen! Sehr gut, sogar.

Heute war nur noch Raffi dran. Dieser eingebildete Schönling. Machte einen auf Mädchen, klimperte mit seinen falschen Wimpern und flötete siegessicher: „Willkommen in der Hauptstadt des Stylings, meine Süßen alle.“ Dabei hatte er Sabina eine Kusshand zugeworfen. Ekelhaft! Na, der würde sich wundern. Nein, auch er konnte ihr den Sieg nicht wegschnappen. Denn ganz am Ende konnten die Zuschauer noch Bonuspunkte für den coolsten Style vergeben, und erst die brachten dann den Sieg. Sabina hatte keine Sorge. Ihr Style war der allerbeste.

Raffi gab sich alle Mühe. Oh, wie Sabina ihn hasste! Sein Laden war eiskalt. Nur schwarzer Marmor und Glas. An der Decke riesige Lüster. Wie in einem Schloss. Keine Spur gemütlich. Nicht so wie bei ihr. Und zu trinken gab’s statt Kaffee und Rotkäppchen Lassis und Smoothies. Also bitte! Naja, was sollte man auch anderes erwarten. Das war wohl auf der Südseeinsel, wo sein Vater herkam, so üblich. Aber nicht bei uns, dachte Sabina. Nicht bei uns!

Jetzt war sie an der Reihe. Die anderen saßen schon, frisch gewellt, gepealt, geschminkt im Tourbus und hatten Raffi mega Noten gegeben. Sabina sah ihren schwer erkämpften Vorsprung schwinden. Sie würde schon dafür sorgen, dass er es bei ihr verpatze. Egal, wie sie danach aussah. Hauptsache, er würde sich blamieren und von den Zuschauern keinen Extrapunkt bekommen.

„Was wünscht du dir denn, liebe Sabina?“, flötete Raffi und klimperte in die Kamera. „Ich will so aussehen wie mein größter Albtraum“, sagte sie und schaute Raffi direkt in die Augen. Damit bist du überfordert, dachte sie. Und freute sich darauf, am Abend mit den Freunden den Gewinn zu teilen.

Aber „sehr gerne“, lächelte Raffi. Und setze hinzu: „Und du bist dir ganz sicher?“ „Hundertprozentig“.

Die Prozedur war lang Und schmerzhaft. Die Kamera durfte hier nie dabei sein. Berufsgeheimnis. Mehr als einmal hatte Sabina nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrückt. Denk an den Sieg, Mädchen, hatte sie sich Mut gemacht.

Endlich war es soweit. Raffi nahm ihr den Umhang ab, verband ihr die Augen und führte sie vor den Spiegel. Jetzt waren die Zuschauer zugeschaltet. Alle konnten sehen, wie hässlich sie aussah, und egal, ob es ihr Wunsch gewesen war oder nicht, Raffi würde damit keine Punkte machen.

Komisch, warum waren plötzlich alle so still? Das Team, die Mitbewerber? Keine Oh-Laute, kein abfälliges Flüstern. Nur eine ganz tiefe Stille.

„So, liebe Sabina, schau dich an. Hier sitzt dein größter Albtraum“, deklamierte Raffi und enthüllte mit dramatischer Geste den Spiegel.

Sabina hielt die Luft an. Starrte auf das Bild. Die Welt um sie herum blieb stehen. Bis sie schrie. Aufsprang und hinausrannte. Auf die Straße. Und verschwand.

Sie hatte in dem Spiegel nicht mehr Sabina gesehen, sondern einen zweiten Raffi. Und zwar so perfekt hergerichtet, dass der Berliner von den Zuschauern für diese Leistung die nötige Punktzahl erhielt, um Sabina zu überholen und sich den Titel „Der Schönste im Land“ zu holen.

Sabinas Beauty Palast suchte kurz danach einen neuen Pächter. Ein Hundefriseur zog ein und erfreute sich bald großer Beliebtheit, auch weit über die Grenzen Sachsens hinaus.