Die goldene Gans


Die Adventszeit hat eindeutig zu wenig Abende, denkt Sissy. Zumindest für sie. Sie macht sich für die Weihnachtsfeier ihrer Yogagruppe zurecht und packt gleichzeitig in den Shopper, was sie auf der anschließenden Weihnachtsfeier ihres Tanzvereins tragen wird. Eigentlich müsste sie einen Koffer mitschleppen! „Mann müsste die Weihnachtsfeiern gleichmäßig übers Jahr verteilen“, davon ist Sissy überzeugt. Das wäre besser für das Zeit-, aber auch für das Kalorienmanagement! Aber absolut schlecht für Sissys Haupteinnahmequelle……

Sissy ist vielseitig interessiert und engagiert. Und das spiegelt sich in einer Vielfalt von Einladungen wieder. Golf- und Tennisclub, Yoga und Tanz, Chor und das ganze Ehrenamt. Und dann ist da natürlich noch das Event des Jahres. Die Weihnachtsfeier ihrer eigenen Agentur. Die beste Gelegenheit, um zu säen und zu ernten. Sissy ist immer und überall. Sie steht in der Toilette und hört ungesehen, wie das Mädel vom Empfang den Chef intim empfängt. Sie schaut genau hin, wenn kleine Briefumschläge den Besitzer wechseln. Sie geht ganz zufällig vorbei, wenn Tim und Tom das Auto der Vereinsvorsitzenden entführen, für eine Spritztour gegen den Laternenpfahl. Und sie steht tatenlos daneben, während der Creativdirektor sich am Praktikanten Lars vergeht.

Sissy ist verschwiegen. Keine Frage. Was unterm Mistelzweig passiert, muss ja nicht in alle Welt gelangen. Natürlich hat Sissys Schweigen seinen Preis. Davon kann sie sich dann zum Beispiel dieses süße goldene Lurexkleidchen kaufen, aus der allerneusten Designerkollection von A., ein Unikat! Ein letzter Blick in ihren Spiegel – wow! Gut, für den Yogakurs ist das absolut overdressed. Aber sie will ihrem Kundalini-Meister zeigen, was ihn die ungebetene Privatlektion mit der erst 16 Jahre jungen Nina gekostet hat, die Sissy selbstverständlich rein zufällig mit angesehen hat. 

Nach der Yogafeier mit dem grässlich grünen Matetee freut sie sich auf das Fünf Sterne Essen ihres Tanzclubs. Auch ihr Agenturchef wird dabei sein. Dieses Mal mit seiner Frau – weshalb Sissy die Besenkammer nicht aus dem Auge lassen wird, ebenso wenig wie die neue Trainerin. Hmmm, das Buffet ist ein wahrer Traum. Die Gänseleber sündhaft teuer. Und so lecker. Sissy tut es leid, dass sie den Teller stehen lassen muss, um schnell hinauszuschlüpfen, hinter ihrem Chef. Was hat er vor? Sie wittert eine neue Quelle.

Leider steht er dann nur am Empfang und raucht. Er raucht? Das wusste sie noch nicht. Na gut, Sissy geht zurück zum Tisch und widmet sich hingebungsvoll der Gänseleber. 

„Diese goldene Gans wurde jedenfalls mit Arsen gestopft“, erklärt der Pathologe tags darauf dem Kommissar. Er spricht von Sissy, die jetzt für immer schweigend auf dem Obduktionstisch liegt.

 

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